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Drag-nets

Luc Meresma, 26.10.2018

Es mag der schlichten Gestaltung dieses ­Buchumschlags geschuldet sein, der keine Auskunft über Genre und Inhalt gibt, und der in zeitlosen Versalien gesetzten fetten Type, die unter dem sprechend verführerischen Titel einen vertraut unbekannten Autor nennt, dass man sich über die eigene Ignoranz nicht hinwegtäuschen kann und sich vornimmt, der legendär anmutenden Bostoner Satyr Press nachzuspüren. Die Recherche ergibt, dass Arthur Wests Drag-nets kaum als erfolgreicher Titel des Bücherjahres 1916 gelten kann und Satyr Press der nach ausschweifender Avantgarde klingende Name eines Verlags ist, dessen Geschichte wohl für immer ungeschrieben bleiben wird.
Das in The Rosenbach of the Free Library of Philadelphia im Herbst 1986 katalogisierte Muster wurde mutmaßlich bei den Antiquaren Hamill & Barker, Chicago erworben, ein Zugangsdatum ist nicht bekannt. Der Schutzumschlag ist ungefalzt, also ungebraucht, und ermangelt eines zugehörigen Leinen- oder Lederbandes im Bibliotheksbestand – und nicht nur dort. Halbware nicht nachgedruckter oder nie aufgebundener Exemplare also? Letzteres ist der Fall, handelt es sich doch in Wirklichkeit um ein eigens für den US-Import und zur Tarnung vor den Zollbehörden gefertigtes Blendwerk u.a. für ein anderes, zwischen 1921 und 1934 der Zensur unterworfenes Werk von umso gesicherterer Prominenz und Qualität: Ulysses von James Joyce. Und Arthur Wests Drag-nets? Spezimen einer vergangenen Kraft von Literatur und Vorzeichen auf das Fehlen gedruckter Bücher, an deren Zukünfte man dereinst wird erinnern müssen.

 

Luzia Gast, 09.06.2023

Nicht zuletzt die 2016 abgeschlossene Restaurierung hatte die These gestützt, dass es sich bei Hieronymus Boschs venezianischem Triptychon um die Darstellung einer Wilgefortis oder Sancta Liberata handle, einer vielerorts verehrten, zum Christentum konvertierten Königstochter, die sich ihrer Zwangsverheiratung entziehen konnte und daher das Martyrium der Kreuzigung erleiden musste. Der Legende nach hatte ihr die Anrufung Gottes über Nacht einen Oberlippenbart beschert, eine rettende Mimikry an die männliche Gewalt, die den Bräutigam derart in Schrecken versetzte, dass dieser sich außer Stande sah, die beschlossene Hochzeit auch zu vollziehen. Die Mitteltafel zeigt in heller Aufregung sowohl die vom heidnischen Vater angeordnete Bestrafung als auch die Ohnmacht des Junggesellen ob einer solch schamlosen imitatio christi.
Auch wenn die Zeit aus dieser Jungfrau eine frühmoderne L.H.O.O.Q. rasée gemacht zu haben schien – denn erst die Restaurierung ließ den feinen Oberlippenbart wieder deutlicher hervortreten –, sind die eigentlichen utopischen Punkta des Werks nicht an der Oberfläche des Bildes zu suchen, sondern außerhalb des Rahmens, an den vier Gelenkstellen zwischen Mitteltafel und den bereits durch Bosch und seine Werkstatt nachträglich übermalten Seitenflügeln. Wie in anderen Triptychen des niederländischen Meisters sorgt die Horizontlinie auch hier für ein Kontinuum zwischen den Tafeln, in diesem Fall rechts auf eine Zukunftslandschaft hin, die inmitten der katastrophalen Folgen der Kreuzigung das triumphierende Schiff der alle Filiation sichernden Kirche darstellt.
Suspendiert die Betrachter:in aber die eschatologische Horizontlinie durch Aushängen und beliebiges Austauschen der rechten Tafel, dann entschiede sich die kruziale Frage nicht nur dieser »Heiligen Kümmernis« in einem ganz anderen ­Anderswo. Alle Genealogie wäre aus den Angeln gehoben, die Zeit buchstäblich out of joint und sexuelle Autonomie auch jenseits oberflächlicher Merkmale in einem frivolen Austausch von Seitentafeln (mitsamt ihren Rückseiten!) und nach Belieben zu imaginieren.

 

 

Hieronymus Bosch, Triptychon der gekreuzigten Märtyrerin Wilgefortis (Triptychon des Martyriums der hl. Liberata),
ca. 1495–1505, Öl auf Eichenholz, 105 x 63 cm (Mitteltafel), 105 x 28 cm (Flügel), Gallerie dell'Accademia, Venedig.

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Honoré Daumier: Don Quixote lisant

Miguel Tamen, 10.04.2018

Der nichtexistente Giotto
Ein Bild mag die Zukunft weniger im Sinne einer Bezugnahme auf ein zukünftiges Ereignis ankündigen, als vielmehr durch eine falsche Datierung, indem es etwa jünger erscheint, als es eigentlich ist. Ich würde vermuten, dass durchaus der ein oder andere in diesem Bild einen unbekannten Bacon von ca. 1957 sehen würde. ­Einige würden den nichtexistenten Bacon im Daumier bewundern; und sich selbst für ihre außergewöhnlichen Lage beglückwünschen, den Bacon im Daumier zu erkennen. Solcherart ist die Position, in einem vergangenen Ereignis die Zukunft zu sehen.
Genauso wie man den Bacon im Daumier sieht, ­würde man nun den Don Quijote lesenden Don Quijote in ­Daumiers »Don Quijote lesend« sehen. Die Vorstellung eines Don Quijote, der etwas anderes läse, würde heutzutage fast wie ein Irrtum erscheinen. Bacons Gemälde sind wesentlich zeitgenössisch, weil sie stets aus­sehen wie ein Don Quijote lesender Don Quijote. Unseren Vorfahren die Fähigkeit zur übernatürlichen Vorhersehung beizumessen, ist wahrlich eine Art von Selbstlob­hudelei, sind wir es doch, die den Nachweis erbringen.
Ich sage: Hören wir doch auf mit derartigen Gesellschaftsspielchen und betrachten wir den Daumier. Vergessen wir, was der alte Herr liest; er las überhaupt nichts; und überhaupt war er nie ein alter Herr. Das Wichtigste ist: Schauen Sie weg vom Buch. Achten Sie vielmehr auf das blaue Fenster in der oberen linken Ecke. Ohne große Anstrengung dürften Sie dort den nichtexistenten Giotto zu sehen bekommen.

 

Honoré Daumier, Don Quixote lisant (circa 1867)
Oil on wood panel / Öl auf Holz, 33.6 x 26.0 cm — National Gallery of Victoria, Melbourne

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François Gérards BELISAR

Christine Tauber, 13.12.2017

Obwohl die Zeitgenossen François Gérards Belisar romantische Qualitäten attestierten, gefiel er dem Erz­romantiker Delacroix nicht: »Das Geschick eines großen Kriegers, der zum Bettler wurde, den der Tyrann, dem er alle seine Dienste weihte, des Augenlichts beraubte und der als Stütze nur ein schwaches Kind besitzt, gibt ein genügend poetisches und anziehendes Bild. Es konnte durch ein so kleinliches Detail wie diese Schlange nur verlieren. Auch der Führer, der von dem, den er führen sollte, getragen wird, mißfällt mir.« Gérard hatte in der Tat mit Bélisaire portant son guide piqué par un serpent im Salon von 1795 für Furore gesorgt, weil er die von seinem Lehrer Jacques-Louis David etablierte Ikonographie revolutionierte: Gérards trotz seines Handicaps tatkräftiger Belisar stimmt keine wehmütige Klage über den Undank der Großen dieser Welt an. Der Blinde trägt vielmehr den zwischen Tod und Leben schwebenden Epheben in eine bessere Zukunft. Gérards Belisar ist als monumentales Emblem für die émigrés gelesen worden, die nach der Exekution des Terreur-Regimes in ihr Vaterland zurückkehrten. Doch der Hoffnungsmoment liegt nicht in der Heimkehr: Belisar als Nothelfer Christophorus kehrt dem vom Sonnenuntergang trikolorisch eingefärbten Himmel über Frankreich, das einen Flächenbrand des Terrors hinter sich hat, und damit der revolutionären Vergangenheit den Rücken zu. Er wird zu einem neuen Laokoon, der hier seinen Sohn in eine ihm noch nicht einsehbare Zukunft zu retten versucht, die in der Zeit und im Raum des Betrachters liegt.

 

Baron François-Pascal-Simon Gérard, Bélisaire (1797)
Oil on canvas / Öl auf Leinwand, 91.8 × 72.5 cm — J. Paul Getty Museum, Los Angeles

Die erste Fassung des Belisar mit lebensgroßen Figuren aus dem Salon von 1795 ist verschollen. Hier zeigen wir die verkleinerte Version von 1797 aus dem J. Paul Getty Museum, die Jean François Léonor Mérimée oder auch Gérard selbst zugeschrieben wird.

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