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Wissen darf seit den achtziger Jahren auch glänzen.


Anke te Heesen

Die Lust am Material
Über das Nebeneinander von Kunst und Wissenschaft, 1975–1989

PDF, 11 Seiten

Ein silberne Tüte, am unteren Ende aufgerissen, macht durch ihre rechteckige Form und die seitlichen Schweißnähte deutlich, dass es hier um eine Umhüllung geht. Leicht zerknittert und zerkratzt, aber immer noch glänzend, kann man hinter der Verpackung eine überdimensionierte Schokoladentafel vermuten. Doch auf den zweiten Blick ist eine Aufschrift zu erkennen: »les immatériaux« und am unteren Ende des Foliengevierts »Album et Inventaire« sowie »Centre Georges Pompidou«. Im Zentrum der Tüte prangt ein spiralförmiges Gebilde, welches zunächst – anders als die aufgedruckten Worte – eine eindeutige Zuschreibung verweigert. So changierend wie das bogenförmige Gebilde ist auch die Farbe, mit der die beschichtete Silberfolie bedruckt wurde: Ein helles Steingrau, das bei wechselndem Lichteinfall mal sehr gut zu erkennen ist, mal von dem vielfach reflektierenden Silber der Folie verschluckt wird. Nur der versprochene Inhalt »Album et Inventaire« ist klar und deutlich in Schwarz gedruckt und zwei schwarze Balken leiten auf die Rückseite der Verpackung. Dort sind der Preis (»120 francs«), der Barcode und die Publikationsnummer zu finden. Der Inhalt steht nun außer Frage: Es muss ein buchähnlicher Gegenstand gewesen sein, der sich in dieser Tüte befand und der als entsprechend kostspielig ausgewiesen wird. Dass darin der Katalog der Ausstellung Les Immatériaux, genauer, das sogenannte »Album« und das »Inventaire« verkauft wurden, macht schließlich der Verweis auf das ­Centre Georges Pompidou klar. 


Die silberne, aufwendig beschichtete Folie war Mitte der achtziger Jahre der letzte Schrei. In futuristischer Anmutung, eher der Weltraumfahrt zugehörig als dem Katalogwesen, erheischt sie beachtliche Aufmerksamkeit. Sie erinnert an die Silver Clouds von Andy Warhol (1966), nicht für den Gebrauch gefertigt, sondern produziert, um vor allem eins zu zelebrieren: Glamour. Die Pariser Ausstellungsorte hatten sich des blitzenden Materials der Popikone bemächtigt. Les Immatériaux bietet so den Eindruck eines neuartig verpackten Ereignisses, das mit einem gehörigen Schuss Pop versehen wurde. Bevor das globale ökologische Bewusstsein dieser Art von aufwendig hergestellten Verpackung ein Ende bereitete, entschieden Jean-François Lyotard, Thierry Chaput und das Ausstellungsteam, dass der Katalog der Ausstellung Les Immatériaux im Gewand eines Konsumgegenstands und einer glitzernden Weltraum-Preziose in den Handel kommt. Was hier verkauft wurde, war gleichermaßen durch Material und Bild beglaubigt: Das aufgedruckte Logo taucht auf den Büchern wie den Plakaten der Ausstellung auf und zeigt einen stilisierten, nicht vollständigen Abdruck einer Fingerkuppe, eines Daumens vielleicht. Unregelmäßig breite Linien verlaufen parallel zu einer Spiralform zusammen und wieder aus ihr heraus. Flüchtiges Zeichen und Spur werden hier zitiert, das schon Verschwindende aber noch nicht Anwesende...

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Anke te Heesen

hat den Lehrstuhl für Wissenschaftsgeschichte am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin inne. Zu ihren Forschungsgebieten zählen die Geschichte der Humanwissenschaften, die Geschichte des Sammlungs- und Museumswesens und das Wechselverhältnis von Kunst und Wissenschaft. Sie arbeitet derzeit zur Geschichte des Forschungsinterviews.

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Ob Medien, Technik, Bilder, Körper oder Ökologie: Was die Geistes- und Kulturwissenschaften heute bewegt, gewinnt bereits in den frühen 1980er Jahren an Aktualität. In den Blick gerät ein Jahrzehnt, in dem sich Medien- und Technikrealitäten in den westlichen Gesellschaften spürbar wandelten und das Versprechen einer ›Wissensgesellschaft‹ in greifbare Nähe rückte. In die Karriere des »Wissens« um 1980 mischten sich historisch spezifische Erfahrungen und Zukunftsversprechen, politische Auseinandersetzungen und soziale Visionen – eine Konstellation, deren Gefüge sich inzwischen verschoben hat oder deren Bedeutung schlicht in Vergessenheit geriet.
Die aktuelle Ausgabe von »Nach Feierabend« widmet sich dieser Konstellation, aus der auch die neuere wissenshistorische Forschung hervorgegangen ist. Wie hängt das heutige Theorieangebot mit den Lebenswelten der achtziger Jahre zusammen? Wie viel bleibt von den visionären Entwürfen der damaligen Zeit übrig, wenn man sie an den historischen Problemhorizont zurückbindet? Und nicht zuletzt: Was blieb auf der Strecke?

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