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Digital Disrupture

Dieter Mersch

Digital Criticism
Für eine Kritik ›algorithmischer‹ Vernunft

Veröffentlicht am 10.12.2017

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Digital Disrupture

Theorien des Digitalen beziehen ihre Konjunktur aus einer zweideutigen Lage. Zum einen besitzen sie ihre Herkunft in den Visionen und Utopien der gegenkulturellen Aufklärung der 1970er Jahre, aus denen nicht nur der Personal-Computer, sondern auch die Medienwissenschaften und Medientheorien hervorgegangen sind, die den digital disrupture theoretisiert und unter Reflexion gestellt haben und nach deren Diagnose wir vor einer ebenso nachhaltigen Zäsur stehen wie die frühe Neuzeit mit der Erfindung des Buchdrucks. Alle Zeichen und Inhalte bisheriger Kulturen stehen damit auf dem Prüfstand, werden transformiert und von einer Entwicklung überholt, deren weitere Dynamik kaum absehbar ist. Die mit der Digitalisierung verbundene technologische Wende, so die allgemeine Analyse, werde alle Lebensverhältnisse dermaßen verändern und von Grund auf durchschütteln, dass mit Marshall McLuhan und dessen zusammen mit Quentin Fiore verfassten Buch, dessen Titel ironischerweise nicht lautet: The Medium is the Message, sondern The Medium is the Massage, von einer gründlichen ›Massage‹ des gegenwärtigen Zeitalters gesprochen werden muss. Was sind die damit verbundenen Hoffnungen? Was die Grenzen und Risiken? Und warum bildet die eigentliche Stelle der Zäsur die Periode des gesellschaftlichen Aufbegehrens in den 1970er Jahren – und nicht schon die späten 1940er oder frühen 50er Jahre, die Zeuge der mathematischen Theoretisierung des Phänomens und der Konstruktion der ersten Computer waren, welche damals noch »Elektronengehirne« hießen?

Tatsächlich ist der Ursprung und damit die Zäsur der Digitalisierung viel älter, zumindest ihr theoretisches Modell und dessen technologische Entsprechung, welche weit in die Anfänge des 20. Jahrhunderts und vielleicht sogar, mit der Boole’schen Algebra und mit Charles Babbages und Lady Lovelaces Studien zur DifferenceEngine, bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreichen. Bereits Alan Turing hatte das nach ihm benannte mathematische Schema der Turingmaschine als eine ›universale Maschine‹ bezeichnet, die alle berechenbaren bzw. mathematisch darstellbaren Probleme zu simulieren vermag. Zudem riefen Claude Shannons Informationstheorie und Norbert Wieners Kybernetik, neben den Entwürfen zu einer allgemeinen Semiotik, Mitte des 20. Jahrhunderts ein neues Wissenschaftsparadigma auf den Plan, das sich spätestens seit den frühen 1960er Jahren anschickte, zirkuläre Kommunikationsprozesse, selbstkorrigierende Maschinen oder zyklischen Kausalitäten und Feedbackschleifen zu denken, um die Einheit von Natur- und Geisteswissenschaften wiederherzustellen und damit die von C.P. Snow so genannten ›zwei Kulturen‹ miteinander zu versöhnen.

Seither scheint es kaum mehr eine Grenze zu geben, die sich dem Erfolg der Digitalisierung widersetzt: Denken und geistige Prozesse werden mittels digitaler Algorithmen erfasst, und die Neurowissenschaften folgen – zumindest in Teilen – immer noch einem Bild vom Gehirn als Computer;...

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Dieter Mersch

Dieter Mersch

war bis zu seiner Emeritierung Professor für Ästhetik an der Zürcher Hochschule der Künste und ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik. Studium der Mathematik und Philosophie in Köln, Bochum und Darmstadt. Mitherausgeber des Internationalen Jahrbuchs für Medienphilosophie. Arbeitsschwerpunkte: Philosophische Ästhetik, Kunsttheorie, Medienphilosophie, Bildtheorie, Musikphilosophie und kontinentale Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts.

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