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»Wunderkind und enfant terrible«

Maria Zinfert

Das Bild Siegfried Kracauers

Aus: Kracauer. Fotoarchiv, S. 11 – 18

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Ein »Wunderkind und enfant terrible« hat Walter Benjamin ihn genannt; in »einer Person« sei er das eine wie das andere, außerdem ein »Störenfried«, ein »Spielverderber«, ein »Einzelner«, heißt es in seiner Besprechung Ein Außenseiter macht sich bemerkbar. Zu S. Kracauer, »Die Angestellten« aus dem Jahr 1930.1 Diese sprechenden Beinamen zielen weniger auf die gesellschaftliche Stellung von Siegfried Kracauer, sondern bringen seine unorthodoxe Arbeitsweise bildhaft vor Augen. Kracauer ist nicht auf eine Disziplin festzulegen: Er hatte Philosophie studiert (u.a. bei Georg Simmel in Berlin), das Studium seines Hauptfaches Architektur 1914 mit der Promotion abgeschlossen und einige Jahre im Architektenberuf gearbeitet, bevor er seinen Lebensunterhalt als Mitarbeiter der Frankfurter Zeitung verdiente. Zwischen 1921 und 1933 verfasste er unter wechselnden Kürzeln, zuweilen auch unter vollem Namen annähernd 2000 Artikel – Nachrichten, Kritiken und Essays »über so ziemlich alles, was unter die Rubrik Kultur fiel«,2 darunter über 600 Filmkritiken, aber auch größere Texte wie seinen heute wohl berühmtesten Essay Das Ornament der Masse.3 In der ersten Generation der Exponenten Kritischer Theorie kommt Kracauer in Sachen Film eindeutig die Vorrangstellung zu.4

Kracauer hatte in der Weimarer Republik durchaus einen Namen, und so war denn auch ein offenes Geheimnis, wer der Autor des 1928 anonym publizierten Romans Ginster. Von ihm selbst geschrieben war. Kracauer trieb indes sein Spiel konsequent weiter und erklärte Ginster zum Autor seines Romans Georg,5 an dem er von 1929 bis 1934 arbeitete. In diese Zeit fiel auch seine Versetzung nach Berlin als Leiter der dortigen Feuilletonredaktion der Frankfurter Zeitung. Als Kracauer 1930 mit seiner Frau Lili vom Main an die Spree übersiedelte, urteilte Benjamin: »Es ist gut für die Stadt, diesen Feind in ihren Mauern zu haben«, und knüpfte daran die Hoffnung, Berlin möge »verstehen ihn zum Schweigen zu bringen […], indem sie ihren besten Zwecken ihn nutzbar macht«.6

Wie man weiß, hat Letzteres sich nicht erfüllt. Unmittelbar nach dem Reichstagsbrand am 28. Februar 1933 flohen Siegfried und Lili Kracauer aus Berlin nach Paris, und als die Frankfurter Zeitung ihren ­langjährigen Redakteur schon wenige Wochen danach ganz fallen ließ, brachte er die Gründe dafür in der Selbstbeschreibung »Jude und Linksmann«7 auf den Punkt: eine Feststellung, die – bei aller Vagheit der Bezeichnung »Linksmann« – in ihrer Direktheit recht untypisch für ihn ist. Selbst in seiner ­Korrespondenz beschrieb Kracauer sich bevorzugt in bildhaften Vergleichen. Zu erkennen gab er sich etwa durch ­Analogien, die zwischen ihm und in seinen Schriften auftretenden literarischen oder historischen ­Figuren ­auszu­machen sind. Er wählte seine Sujets nach dem Prinzip der Ähnlichkeit – eine dem Grundsatz ­»Gleiches wird durch ihm Gleiches erkannt« folgende methodische Entscheidung. So steht im Mittelpunkt seiner »Gesellschaftsbiographie« Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit (1937) der aus Deutschland stammende, jüdische Komponist Offenbach. Wenn Kracauer diesen dem Luftgeist Ariel gleichsetzt, dessen »Reich der Heiterkeit […] zeitlich so wenig wie räumlich fixiert werden konnte«, umreißt er damit seinen eigenen Wunsch, weder im Raum noch in der Zeit festgelegt zu werden. Sein Beharren auf Exterritorialität war so stetig und eindringlich, dass sein Leben unter dem Signum der ­Exterritorialität gedeutet werden kann.8 Kracauers Hinwendung zu unscheinbaren Oberflächenäußerungen spiegelt sich etwa auch in dem Offenbach zugeschriebenen »unwiderstehliche[n] Zug […] zur Oberfläche des Lebens als dem Orte […], der die geringsten Verfestigungen aufwies«.9 Darin lässt sich die lichte Kehrseite der »alles durchdringende[n] Furcht vor dem Fixierten« erkennen, die Kracauer in seinem letzten, unvollendet gebliebenen Buch ­History. The Last Things before the Last (postum 1969)10 am humanistischen Gelehrten Erasmus von ­Rotterdam herausstellt: »Vom Standpunkt der Welt aus gesehen war Erasmus in der Tat ein unsicherer Kantonist.«11

Einen beweglichen Denker wie Kracauer auf gängige Kategorien festzulegen ist kaum möglich, und so tendiert man rückblickend etwa dazu, in ihm das »Missing Link zwischen der Frankfurter Schule und den New York Intellectuals« zu sehen.12 Es wäre jedoch verfehlt, Kracauer zu einem zwischen diesen beiden etablierten Größen vermittelnden Bindeglied zu erklären. Doch ist ihm die Zwischenposition eines ­»Missing Link« insofern angemessen, als auch auf ihn zutrifft, was er über Erasmus sagt, dass ihn nämlich »seine Aversion gegen Formeln und Rezepte […] veranlasste, seine Ideen in sozusagen flüssigem Zustand zu halten« und es »undenkbar [war], daß sie sich in einem institutionalisierten Programm verfestigten.«13 Der rechte Ort solcher Ideen liegt in den Lücken zwischen den Lehrmeinungen einer Epoche, und in diesen Lücken sieht Kracauer eine wesentliche und schwer fassbare Botschaft verborgen: »Die[se] Botschaft […] betrifft die Möglichkeit, daß keiner der widerstreitenden Standpunkte das letzte Wort sei zu den letzten Fragen, um die es geht; daß es im Gegenteil eine Weise des Denkens und Lebens gibt, die, sofern wir ihr Folge leisteten, gestattete daß wir uns erschöpfend durch die Standpunkte hindurcharbeiten, um uns ihrer zu entledigen – eine Weise, die in Ermangelung eines besseren Ausdrucks, oder eines Ausdrucks überhaupt, human zu nennen wäre«.14

Kracauer, dem im Frühjahr 1941 mit seiner Frau die Flucht aus Europa gelungen war, begann bereits sechs Monate nach seiner Ankunft in New York in englischer Sprache zu publizieren und schrieb schon nach einem Jahr nicht mehr aus der Perspektive eines europäischen Beobachters. Mit seinem 1942 erschienen Essay Why France Liked Our Films15 wandte er sich als »Amerikaner« an die amerikanische Öffentlichkeit.16 Die von ihm in der Folge publizierten Studien From Caligari to Hitler. A Psychological History of the German Film (1947) und Theory of Film. The Redemption of Physical Reality (1960)17 – zwei der wichtigsten Film­bücher der Nachkriegszeit – machten ihn in Amerika zu einem, wenn auch umstrittenen, führenden Filmtheoretiker. Dieser Ruf drang auch nach Deutschland, und als dort eine Neuauflage seiner Offenbach-­Biographie vorbereitet wurde, bat Kracauer darum, ihn nicht als »Film-Mann« vorzustellen, und fügte hinzu »(Was den Film betrifft, so war er immer nur ein Hobby, ein Mittel, um gewisse soziologische und philosophische Aussagen zu machen)«.18 Wenn man das nicht einfach als Understatement abtun will, war seine jahrzehntelange intensive Beschäftigung mit dem Film die methodische Gewichtung einer Nebensache: »Er lobte die Methode, weil sie das Gewicht auf Nebensachen lege und Schleichwege benutze. Sie sei für Detektive geschaffen«.19 Gewiss nicht zu Unrecht hat man den leidenschaftlichen Krimi-Leser ­Kracauer auch einen »Detektiv des Kinos« genannt.20

Dass Kracauer seitens »einiger Filmtheoretiker […] für eine naive Apologie des Realismus« abgestraft wird, steht für andere im Register unproduktiver Lesarten »an prominenter Stelle«.21 Nicht unschuldig daran ist Theodor W. Adorno mit seinem Porträt Der wunderliche Realist. Über Siegfried Kracauer. Diese anlässlich des 75. Geburtstages von Siegfried Kracauer von Theodor W. Adorno verfasste, durchaus ambivalente Hommage, wo es etwa heißt, er denke »mit dem fast hilflos erstaunten, jäh dann aufleuchtenden Auge«,22 war Gegenstand einiger im Herbst 1964 zwischen den beiden hin- und hergehender Briefe, in denen ein bitterer Streit durchgefochten wurde, der für die spannungsreiche Freundschaft symptomatisch scheint. Kracauer machte Adorno unter anderem zum Vorwurf, seine Schriften und sein Denken im Interesse einer vorgefassten »Anpassungstheorie« missinterpretiert zu haben, Adorno stichelte zuletzt, Kracauer zeige »eine Neigung […], die Rezeption [s] einer Dinge, das Bild von [sich], […] zu steuern […]«, was dieser wiederum mit der Bemerkung von sich wies, er komme als Freund »ausnahmsweise aus [s]einer Reserve und spiele den Lotsen«.23 Dass Kracauer bereits im voraus Bedenken hatte und Adorno zu lotsen versuchte, zeigt ein Brief vom Januar 1964, in dem er bemerkt, es sei ganz falsch, ihn (wie in einer gerade erschienenen FAZ-Kritik) als »Anreger und Vermittler der Ideen« zu bezeichnen, und ruft im Anschluss, eingedenk seiner frühen Bücher Ginster und Die Angestellten, eine ganz andere Charakterisierung wach: »Erinnerst Du Dich was Benjamin damals über die Angestellten schrieb? Ich käme wie ein Lumpensammler am ­frühen Morgen daher – – am Morgen der Revolution meinte er, hélas.«24

Bereits im vorausgegangenen Brief an Adorno hatte er eine weitere, ebenfalls in seine Arbeiten der 1930er Jahre zurückzuverfolgende Figur ins Spiel gebracht und erklärt: »Es ist […] ein gutes Stück Sancho Pansa in mir.«25 Gemeint ist der Sancho Pansa, der in Franz Kafkas Text Die Wahrheit über Sancho Pansa aus dem Schatten des Don Quixote hervorgeholt wird.26 Diesem auf eine »terra incognita« weisenden ­Sancho Pansa gelten die abschließenden Gedanken in Siegfried Kracauers letztem Buch Geschichte. Vor den ­letzten ­Dingen:


»Sancho Pansa, der sich übrigens dessen nie gerühmt hat, gelang es im Laufe der Jahre, durch Beistellung einer Menge Ritter- und Räuberromane in den Abend- und Nachtstunden seinen Teufel, dem er später den Namen Don Quixote gab, derart von sich abzulenken, daß dieser dann haltlos die verrücktesten Taten aufführte, die aber mangels eines vorbestimmten Gegenstandes, der eben Sancho Pansa hätte sein sollen, niemandem schadeten. Sancho Pansa, ein freier Mann, folgte gleichmütig, vielleicht aus einem gewissen Verantwortlichkeitsgefühl, dem Don Quixote auf seinen Zügen und hatte davon eine große und nützliche Unterhaltung bis an sein Ende.«27

Ein ikonisches Foto


Unter den Fotomaterialien im Kracauer-Nachlass finden sich auch die Scherben eines Glasnegativs. Anlässlich der Kabinett-Ausstellung zum 100. Geburtstag von Siegfried Kracauer 1989 im Schiller-­Nationalmuseum Marbach wurden die vorhandenen Bruchstücke der Negativplatte wie ein Puzzle ­zusammengefügt und von dem, so gut es eben ging wiederhergestellten, Bild ein Abzug gemacht. Das dabei entstandene, erstmals mit dem Katalog zur Ausstellung veröffentlichte28 Porträtfoto ist inzwischen weit verbreitet. Lili und Siegfried Kracauer jedoch haben es nie gesehen; es ist daher als solches auch nicht Teil ihres Fotoarchivs. 


Nicht alle Bruchstücke des Glasnegativs sind erhalten geblieben – oben in der Mitte des Abzugs klafft deshalb schwarz ein L-förmiges Loch – und die aneinanderstoßenden Kanten der Scherben ziehen sich wie Risse durch das Bildnis. Was mit diesem ikonisch gewordenen Foto eigentlich vor Augen steht, ist, mit dem Kunsthistoriker Peter Geimer gesprochen, ein Bild aus Versehen. Die Bezeichnung ist zutreffend, auch wenn der Abzug vom kaputten Negativ absichtlich gemacht wurde. Das Versehen besteht in dem der Montage vorausgegangenen Unfall, dem Zerbrechen des Glasnegativs. Das so entstandene Bild zeigt Siegfried Kracauer, aber zugleich auch das Glas, aus dem es gemacht ist: »Dank eines Unfalls ist sichtbar geworden, was für gewöhnlich in der gläsernen Transparenz des Bildträgers verschwindet.« Was das ikonische Foto sichtbar macht, indem es unvermeidbar auch »die reale Beschädigung des Bildträgers zur Schau« stellt, ist das »Medium dieser Sichtbarmachung selbst«,29 die Fotografie. Der Blick erfasst zwangsläufig beides, »das fotografische Bildnis und die Sichtbarkeit des Materials, aus dem dieses Bildnis gemacht ist«.30 Dennoch unterschlagen viele Deutungen dieses Kracauer-Porträts die augenfällige Differenz zwischen Bild und Bildstörung. Das reicht von Missverständnissen wie der Beschreibung »Siegfried ­Kracauer hinter geborstenem Glas«31 und der Auffassung, Kracauer sei hier in einem zerbrochenen Spiegel zu sehen, bis zu symbolischen Aufladungen, die in der realen Beschädigung des Bildträgers »das zersplitterte Ganze, das der Theoretiker der Moderne so sehr liebte«,32 erkennen. Andernorts wird das Foto als ein Beleg dafür herangezogen, »wie wenig Kracauer im Medium des Sichtbaren zu fixieren« sei: Kracauer scheine »im nächsten Augenblick entkommen zu wollen – ins Unsichtbare«, und zwar durch die »Risse der gesprungenen Oberfläche«.33 Ein solches Ineinander-Blenden von Bild und Bildstörung gehorcht bisweilen dem Verlangen, ein Bild unangetastet zu lassen, das diejenigen, »die sich mit [Kracauer] befassen, sich von ihm gemacht haben«. Die »prosaische Erklärung« der »Montage« wird folglich als belanglos verworfen.34

Dabei kann über das ins Bildgedächtnis der Kracauer-Leser eingegangene Foto auf Basis des vorhandenen Materials einiges gesagt werden. Irgendwo auf dem Weg, den die Negativplatte im Zeitraum eines halben Jahrhunderts von Deutschland über Frankreich in die USA und wieder nach Deutschland zurückgelegt hat, muss der »ursprüngliche Zufall/Unfall (accidens originale)«35 geschehen sein. Als das Glasnegativ bei den Vorbereitungen zur Centenar-Ausstellung Siegfried Kracauer. 1889–1966 in Marbach zutage kam, lag es in Scherben. Um feststellen zu können, was auf dem Negativ überhaupt zu sehen ist, musste man die einzelnen Teile zusammenfügen. Von dieser Montage ist es nur ein kleiner Schritt zum Entschluss, einen Abzug herzustellen, um das Bild zu fixieren. Das Ergebnis der Rekonstruktion des Bildträgers ist ein konstruiertes Bild von Siegfried Kracauer. Das Porträt ist von vielen Rissen durchzogen, ein starker Riss, der als gebogene schwarze Linie erscheint, zerschneidet Kracauers Gesicht in zwei Hälften, diagonal von oben nach unten, mitten durch ein Auge. Die Spuren der Beschädigung überlagern das Abgebildete. Das oben in der Mitte klaffende, L-förmige Loch unterbricht die Transparenz des fotografischen Mediums vollends.


Als Motiv der Aufnahme war ursprünglich nur der zentrale Ausschnitt, ein Brustbild Kracauers, ­anvisiert, wie ein entsprechender Originalabzug vom noch intakten Glasnegativ zeigt. Das Festlegen des Bildausschnitts nicht schon bei der Aufnahme, sondern erst in der Dunkelkammer beim Entwickeln war das damals übliche Verfahren. Außer dem originalen Abzug liegen im ­Kracauer-Fotoarchiv zwei aus ­Zeitschriften ausgeschnittene Reproduktionen des Porträts, das Kracauer auch für seinen Eintrag im Reichshandbuch der Deutschen Gesellschaft eingereicht hat.36 Zweck der Aufnahme war es offenbar, ein für Veröffentlichungen geeignetes Bild des damaligen Redakteurs der Frankfurter Zeitung zu erhalten. 


Was der originale Abzug ausblendet, kommt mit dem Abzug vom zerbrochenen Glasnegativ ans Licht, nämlich die Aufnahmesituation: Kracauer sitzt für ein Porträt im üblichen Halbprofil auf einem Tisch, die Beine übereinandergeschlagen stabilisiert er seine Haltung durch Abstützen der Hände an der Tischplatte. Vom Raum ist nicht viel zu erkennen. Die Seitenfläche eines hohen Schranks, der seinen Schatten an die durch ein Oberlicht überhöhte Wand wirft, vor der Kracauer, einen eigentümlich gefalteten Bogen weißen Papiers neben sich, aufgenommen ist. Die kargen Details lassen darauf schließen, dass das Bild nicht in einem Fotoatelier gemacht wurde. Die Situation wirkt improvisiert; vermutlich war ein Amateur am Werk. Diesen Eindruck erhärtet nicht zuletzt auch die Überlieferung der Fotoplatte im Kracauer-­Nachlass, die ein professionelles Atelier einbehalten hätte. Der Zeitpunkt der Aufnahme lässt sich zwar nicht exakt feststellen, doch kann anhand einiger Indizien ein ungefährer Zeitraum eingegrenzt werden. Die Aufnahme muss spätestens 1930 gemacht worden sein, denn in diesem Jahr hat Kracauer das Porträt, dem Reichshandbuch der Deutschen Gesellschaft zur Verfügung gestellt. Möglicherweise aber ist das Foto bereits früher gemacht worden, wie die äußere Erscheinung ­Kracauers nahelegt, vor allem die Kleidung: Den steifen weißen Hemdkragen, die Hemdbrust und die Fliege hat Kracauer vor 1930 abgelegt; Porträt­fotos aus diesem und den nachfolgenden Jahren zeigen ihn in dreiteiligem Anzug und mit Krawatte. Eine Datierung auf die 1920er Jahre wird außerdem durch die ursprüngliche, von Lili Kracauer angelegte Ordnung des Kracauer-Fotoarchivs bestätigt: Der originale Abzug war in ein Kuvert mit der Aufschrift »Childhood etc.« einsortiert, das, außer Kinder- und Jugendfotos, mit diesem noch drei weitere Porträts des jungen Kracauer enthielt.


Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das ikonische Foto auf eine Aufnahme zurückgeht, die Siegfried Kracauer um 1927 in Frankfurt am Main, möglicherweise in der Redaktion der Frankfurter Zeitung, von sich hat machen lassen, und zwar sehr wahrscheinlich von einem Amateurfotografen. Ateliers professioneller Fotografen waren in den Augen von Walter Benjamin Räume, die »zweideutig zwischen Exekution und Repräsentation, Folterkammer und Thronsaal standen«.37 Kracauer sah das gewiss ähnlich. Ihm waren die Kunstgriffe durchschnittlicher Porträt-Fotografen äußerst suspekt, auch weil diese »von vornherein weniger die Wiedergabe ihres Gegenstandes [erstreben] als die Vorführung sämtlicher Effekte, die aus ihm herausgeholt werden können.« Wenn Kracauer einem Amateur den Vorzug gab, stellte er sicher, dass seine Erscheinung nicht zur Umsetzung einer künstlerischen Auffassung missbraucht wurde. In dieser Konstellation konnte er mehr Kontrolle über sein öffentliches Bild erlangen, und später sollte er in seiner Frau die ideale Leibfotografin finden. Das jahrzehntelange fotografische Interagieren zwischen Lili und Siegfried Kracauer brachte Porträts hervor, in denen »das Gesicht [nicht] in eine fremde Perspektive gezwungen« erscheint, sondern, ganz nach Kracauers Ideal, »die Essenz [des] Porträtierten von sich aus den Stil [bedingt]«.38

ANMERKUNGEN


1 Walter Benjamin, »Ein Außenseiter macht sich be­merkbar. Zu S. Kracauer, ›Die Angestellten‹« (1930), u.a. abgedruckt in: Ders., Briefe an Siegfried Kracauer, 
Marbach am Neckar 1987, S. 107–112.


2 Miriam Hansen, Cinema and Experience. Siegfried ­Kracauer, Walter Benjamin and Theodor W. Adorno, 
Berkeley 2012, S. 3f.

3 Zu den von Kracauer benutzten Pseudonymen und Kürzeln vgl. Thomas Y. Levin, Siegfried Kracauer. Eine ­Bibliographie seiner Schriften, Marbach am Neckar 1989, S. 18ff. sowie S. 386–388. 


4 Vgl. Hansen, Cinema and Experience, a.a.O., S. xi. 
Der Begriff »Kritische Theorie« wird von Hansen hier in einem breiteren, in den 1960er Jahren geläufigen Sinne gebraucht und bezieht sowohl die Angehörigen der Frankfurter Schule, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse und Leo Löwenthal mit ein als auch die Denker, die unterschiedlich ausgerichtete Verbindungen 
zu ­Marxistischer Theorie haben wie Walter Benjamin, ­
Ernst Bloch und Siegfried Kracauer; darüber hinaus die jüngere Generationen mit Autoren wie Jürgen Habermas, Oskar Negt und Alexander Kluge.


5 Vorabdrucke aus dem Manuskript von Georg erschienen 1929 in der Frankfurter Zeitung sowie in der von Hermann Kesten im selben Jahr herausgegebenen Anthologie 24 Neue Deutsche Erzähler, wobei als Autor jeweils »Ginster« genannt wird; vgl. Levin, Siegfried Kracauer. Eine Bibliographie seiner Schriften, a.a.O., S. 211 u. 217. Der Roman erschien postum 1977.


6 Walter Benjamin, »S. Kracauer, Die Angestellten. Aus dem Neuesten Deutschland« (1930), u.a. in: Ders., Briefe an Siegfried Kracauer, a.a.O., S. 113–115, hier S. 115.


7 »Den Juden und Linksmann wollen sie los sein, sonst nichts. Und dafür habe ich elf Jahre gearbeitet […]«, schrieb Kracauer im April 1933 aus Paris; zitiert in: Ingrid Belke und Irina Renz (Bearbeiter), Siegfried Kracauer 1889–1966, Marbacher Magazin 47/1988, Marbach am Neckar 1988, S. 76. 


8 Vgl. Martin Jay, »The Extraterritorial Life of Siegfried Kracauer«, in: Ders., Permanent Exiles. Essays on the Intellectual Migration from Germany to America, New York 1985.


9 Siegfried Kracauer, Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit, in: Werke Bd. 8, Frankfurt am Main 2005, S. 165 und 171.


10 Das von seinem Freund Oskar Kristeller vervollständigte und 1969 herausgegebene Buch erschien in der deutschen Übersetzung aus dem Amerikanischen von Karsten Witte: Geschichte. Vor den letzten Dingen, Frankfurt am Main 1971. 


11 Kracauer, Geschichte. Vor den letzten Dingen, in: Werke Bd. 4, Frankfurt am Main 2005, S. 19. Der Abschnitt über Erasmus, aus dem hier zitiert wird, erschien unter dem Titel Zwei Deutungen in zwei Sprachen in der von Siegfried Unseld 1965 herausgegebenen Festschrift Ernst Bloch zu Ehren als eigenständiger Essay in der amerikanischen Originalfassung, eingeleitet von einem auf Deutsch geschriebenen 
Gratulationsbrief an den langjährigen Freund; beides auch in: Werke Bd. 5.4, Berlin 2011, S. 631–642. Zur autobiographischen Dimension von Kracauers Erasmus-Porträt in History. The Last Things before the Last vgl. Philippe Despoix, 
»Une histoire autre?«, in: Ders. und Peter Schöttler (Hg.), Siegfried Kracauer. Penseur de l’histoire, Paris 2006, S. 13–28. 


12 Zu Kracauers Verbindung zum Institut für Sozialforschung und den New York Intellectuals (wie Hannah Arendt, Clement Greenberg, Robert Warshow) vgl. Johannes von Moltke und Kristy Rawson, Siegfried Kracauer’s ­American Writings. Essays on Film and Popular Culture, ­Berkeley 2012, S. 12. 


13 Kracauer, Geschichte, in: Werke Bd. 4, a.a.O., S. 18.


14 Ebd.


15 Deutsche Übersetzung unter dem Titel »Warum die Franzosen unsere Filme mochten«, in: Werke Bd. 6.3, 
Frankfurt am Main 2004, S. 344–355.


16 Von Moltke und Rawson (Hg.), Siegfried Kracauer’s American Writings, a.a.O., S. 5. 


17 Erste vollständige Übersetzung ins Deutsche: Von ­Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films, Frankfurt am Main 1971; Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt am Main 1964.


18 Siegfried Kracauer an Wolfgang Weyrauch, Brief vom 4. Juni 1962, in: Belke/Renz, Siegfried Kracauer 1889–1966, a.a.O., S. 118.


19 Vgl. Siegfried Kracauer, Ginster, in: Werke Bd. 7, 
Frankfurt am Main 2004, S. 42.

20 Heide Schlüpmann, Ein Detektiv des Kinos: Studien zu Siegfried Kracauers Filmtheorie, Frankfurt am Main 1998.


21 Gertrud Koch, Kracauer zur Einführung, Hamburg 1996, S. 11.


22 Theodor W. Adorno, »Der wunderliche Realist. Über Siegfried Kracauer«, in: ders., Noten zur Literatur, Frankfurt am Main 1981, S. 392.


23 Briefe vom Oktober und November 1964, in: Theodor W. Adorno – Siegfried Kracauer. Briefwechsel 1923–1966, Frankfurt am Main 2008, S. 669–686, hier S. 678, S. 682, S. 689.


24 Ebd., S. 639. Kracauers Erinnerung ist ziemlich genau: Benjamin schrieb 1930: »Und wollen wir ganz für sich uns in der Einsamkeit seines Gewerbes und Trachtens ihn vorstellen, so sehen wir: Einen Lumpensammler frühe im Morgengrauen, […]. Ein Lumpensammler, frühe – im Morgengrauen des Revolutionstages.« Benjamin, »Ein Außenseiter macht sich bemerkbar. Zu S. Kracauer, ›Die Angestellten‹«, a.a.O., S. 112. 


25 Theodor W. Adorno – Siegfried Kracauer. Briefwechsel 1923–1966, a.a.O., S. 633.


26 Über diesen Text schrieb Kracauer erstmals 1931 in seinem Essay Franz Kafka, den er in seine 1963 publizierte Anthologie Das Ornament der Masse aufgenommen hat. Zur Bedeutung der Figur Sancho Pansa im Werk von Kracauer, vgl. Stephanie Baumann, Im Vorraum der Geschichte. Siegfried Kracauers History The Last Things Before the Last, Konstanz 2014, passim. 


27 Kracauer, Geschichte, in: Werke Band 1.4, a.a.O., S. 247f.


28 Belke/Renz, Siegfried Kracauer 1889–1966, a.a.O. 


29 Peter Geimer, Bilder aus Versehen. Eine Geschichte fotografischer Erscheinungen, Hamburg 2010, S. 9–19. In der Einleitung bespricht Geimer eine Stadtansicht von Paris des ungarischen Fotografen André Kertész: das Foto zeigt Paris und zugleich ein Netz von Rissen und ein schwarzes Loch. Kertész hat, nachdem das Glasnegativ zerbrochen war, einen Abzug davon gemacht und das so entstandene Bild Broken Plate genannt.


30 Ebd., S. 67. 


31 So lautete die Bildunterschrift in Jochen Stöckmann, »Aufklärer aus Passion. Zum 100. Geburtstag von Siegfried Kracauer«, in: Hannoversche Allgemeine, 8. Februar 1989.


32 »Das zersplitterte Ganze, das der Theoretiker der Moderne so sehr liebte: Siegfried Kracauer um 1930«, Bildunterschrift; Lorenz Jäger, »Freddies oder vielmehr Teddies Lehrjahre. Der junge Adorno in Briefen Siegfried Kracauers an Leo Löwenthal«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 
28. April 2003.


33 Inka Mülder-Bach, »Schlupflöcher. Die Diskontinuität des Kontinuierlichen im Werk Siegfried Kracauers«, in: Michael Kessler und Thomas Y. Levin, Siegfried Kracauer. Neue Interpretationen. Tübingen 1989, S. 249–266, hier S. 263f. 


34 Jacques Revel, »Siegfried Kracauer et le monde d’en bas (Présentation)«, in: L’histoire. Des avant-dernières choses, hrsg. von Nia Perivolaropoulou und Philippe Despoix, Paris 2006, S. 7–42, hier S. 9f. (Übers. d. Hrsg.). 


35 Zur Definition des im Medium der Fotografie ursprünglichen Unfalls vgl. Geimer, Bilder aus Versehen, a.a.O., S. 61.


36 Eine Reproduktion des Abzugs vom zerbrochenen ­Glasnegativ ist in den Umschlag von Belke/Renz, Siegfried Kracauer 1889–1966, a.a.O. eingelegt; rück­seitig wird das Foto folgendermaßen kommentiert: ­»Siegfried Kracauer / Photographie aus dem Jahr 1930 / Der Ausschnitt im Umschlag gibt das Porträt wieder, das Kracauer dem ›Reichshandbuch der Deutschen Gesellschaft‹ 1930 zur Veröffentlichung überlassen hatte.« Es handelt sich um das zweibändige Reichshandbuch der Deutschen Gesellschaft – Das Handbuch der Persönlichkeiten in Wort und Bild, 


Berlin 1930/31.


37 Walter Benjamin, Kleine Geschichte der Photographie, in: ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt am Main 1963, S. 78.


38 Siegfried Kracauer, »Anmerkungen über Porträt-­Photographie«, in: Werke Bd. 5.4., Berlin 2011, S. 359–361, hier S. 359f.

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Maria Zinfert

Maria Zinfert

arbeitet in Berlin als freie Autorin, Herausgeberin und Übersetzerin. Sie promovierte über die Romane von Victor Segalen und hat mehrere seiner Texte ins Deutsche übertragen. Sie forscht derzeit über Archivfotos deutschsprachiger Autorinnen und Autoren des 20. Jahrhunderts und hat bereits mehrere Beiträge zu den Fotografien aus Kracauers Nachlass veröffentlicht.

Weitere Texte von Maria Zinfert bei DIAPHANES
Maria Zinfert (Hg.): Kracauer. Fotoarchiv

Maria Zinfert (Hg.)

Kracauer. Fotoarchiv

Mit Fotografien von Elisabeth Kracauer und Siegfried Kracauer

Gebunden, 256 Seiten

Das Fotobuch »Kracauer. Fotoarchiv« zeigt bisher unbekannte fotografische Materialien aus dem Nachlass des Soziologen, Feuilletonisten und Filmtheoretikers Siegfried Kracauer: Portraits, Stadt- und Landschaftsaufnahmen eröffnen Einblicke in den durch Flucht und Exil geprägten Lebensweg des Autors und seiner Ehefrau Elisabeth, genannt Lili. Die von 1930 an entstandenen Porträtfotos von Kracauer hat sämtlich seine Frau aufgenommen, und auch Kracauer selbst hat fotografiert, wie die Abzüge, Kontakte, Filmrollen und handschriftlichen Materialien erweisen. Zwar waren beide keine professionellen Fotografen, doch markieren ihre Bilder dem ästhetischen und technischen Anspruch nach ein eigenes Feld des Fotografischen: Der Blick des großen Fototheoretikers trifft sich hier mit dem der Kunsthistorikerin und aufmerksam operierenden fotografischen Autodidaktin Lili Kracauer. Das Buch erzählt mithin auch die Geschichte der engen Zusammenarbeit zwischen Lili und Siegfried Kracauer – von den frühen 1930er Jahren nach ihrer Heirat in Deutschland über das Pariser Exil bis zu den Kriegs- und Nachkriegsjahren in den USA.