Wir sprachen mit Dr. Thomas Huber, der für Novartis im Bereich der Antikörper forscht und das Projekt »The Lynn Hershman Antibody« gemeinsam mit der Künstlerin und in Kooperation mit dem HeK Basel realisiert hat.
Können Sie uns kurz Ihre Arbeit und Ihren Forschungsbereich beschreiben? Novartis sucht nach geeigneten Antikörpern, die zu therapeutischen Zwecken verwendet werden können. Mittels unterschiedlicher biotechnologischer Methoden werden aus synthetischen Bibliotheken und natürlichen Antikörperquellen Kandidaten selektioniert, welche Einfluss auf krankheitsrelevante biologische Prozesse (Targets) nehmen. Die so gefundenen Antikörper werden verbessert, bis sie die gewünschten Eigenschaften besitzen und zur Behandlung von bestimmten Krankheiten eingesetzt werden können. Diese nennen wir therapeutische Antikörper.
Wann und wie kam das Projekt einer Zusammenarbeit mit Lynn Hershman Leeson zustande und wie lange waren Sie damit befasst? Therapeutische Antikörper sind Teil unseres Portfolios. Lynn hatte sich an Novartis gewandt, um mehr über den Herstellungsprozess und die Anwendungsmöglichkeiten von Antikörpern zu erfahren. Bei ihrem Besuch im Oktober 2017 entstand die Idee zu einem neuen Antikörper. Antikörper sind spezielle Proteine und bestehen aus Aminosäuren. Jede der 20 natürlichen Aminosäuren, wird typischerweise durch einen Buchstaben abgekürzt, so steht zum Beispiel »L« für Leucin. Der neuartige Antikörper trägt den Namen LYNN HERSHMAN in seiner Aminosäurensequenz und erhält dadurch individuelle Eigenschaften. Die Herstellung und Charakterisierung dieses Antikörpers wird bis zur Ausstellungseröffnung am 2. Mai 2018 im Haus der elektronischen Künste Basel abgeschlossen sein.
In welcher Weise unterschied sich Ihr Vorgehen bei der Synthese des LYNN HERSHMAN-Antikörpers von Ihrer sonstigen Vorgehensweise? Können Sie uns etwas über das wissenschaftliche Verfahren und auch die Interaktion zwischen Ihnen und der Künstlerin sagen? Die Produktion und die Charakterisierung des LYNN HERSHMAN-Antikörpers reflektiert in etwa den tatsächlichen Prozess und hilft ihn zu veranschaulichen und zu verstehen. Im vorliegenden Fall wurde die Sequenz des Antikörpers festgelegt, während bei einem therapeutischen Antikörperprogramm das sogenannte »Target«, das Protein oder Antigen, das vom Antikörper gebunden werden soll, im Vordergrund steht. Besonders relevant ist die Art der Interaktion von Antikörper und Antigen, an welcher die Funktionsweise des Antikörpers abgelesen werden kann. Die Antikörpersequenz ist anfänglich nicht bekannt und wird während des Prozesses buchstäblich »gefunden«. Beim LYNN HERSHMAN-Antikörper haben wir dagegen die Sequenz des Antikörpers vorgegeben und suchen nach dem möglichen Antigen und der Funktionsweise. Dazu testen wir die Stärke der Bindung des Antikörpers an über 7000 Proteinen. Dieses entscheidende Experiment werden wir erst bei Lynn Hershmans Besuch Ende April auswerten. Wir standen während des Prozesses mit Lynn im Kontakt und haben den Fortschritt des Projektes besprochen.
Was ist – grob skizziert – notwendig, damit ein Antigen die Bildung eines Antikörpers auslöst? Durch einen komplexen Prozess stellt unser Körper dauernd unzählige neue Antikörper her. Sobald einer dieser Antikörper ein fremdes Antigen erkennt, wird er in größeren Mengen produziert, um den Fremdkörper zu eliminieren. Auch merkt sich unser Körper die Baupläne der für ihn nützlichen Antikörper, so dass diese zu einem späteren Zeitpunkt schnell reproduziert werden können. Antikörper erkennen eine enorm große Breite von verschiedenen Antigen-Klassen: Virusbestandteile, Proteine, DNA und selbst kleine Moleküle, sogenannte Haptene. Ob der LYNN HERSHMAN-Antikörper ein spezifisches, fremdes oder eigenes, Antigen erkennt, werden wir erst am Ende des Experiments wissen.
Von welcher Größe ist der erzeugte Antikörper und wie viele »Exemplare« liegen vor? Gibt es Bilder, d.h. so etwas wie ein visuelles Porträt oder eine detaillierte Beschreibung seiner Struktur? Was ist sein »Gesicht« oder müsste man eher von einem Interface sprechen? Der LYNN HERSHMAN-Antikörper besteht aus 4 Proteinketten mit total 1334 Aminosäuren. Für die Ausstellung haben wir etwa 60 Billiarden Moleküle hergestellt. Eine unvorstellbar große Zahl. Da Antikörper jedoch extrem klein sind, ergibt dies dennoch nur ein Gewicht von etwa 15 Milligramm. Mit bloßem Auge oder mit einem Lichtmikroskop sind Antikörper nicht zu erkennen.
Die räumliche Struktur von Proteinen wird mittels Röntgenstrukturanalyse berechnet. Auf diese Weise wurde auch die Grundstruktur des LYNN HERSHMAN-Antikörpers ermittelt sowie der neue LYNN HERSHMAN »Antigenbindungs-Loop« mit entsprechenden Programmen realitätsnah in die Struktur integriert. Dieser Loop ist hauptverantwortlich für die Interaktion mit dem Antigen und verleiht ihm somit seine Bindungseigenschaften. Oft trägt dieser Loop auch maßgeblich zu den biophysikalischen Eigenschaften des Antikörpers bei. Diese Eigenschaften werden für die Ausstellung beschrieben.
Die Besucher können die Struktur interaktiv auf einem 3D-Bildschirm erleben und in einer Animation auch die räumliche Flexibilität des LYNN HERSHMAN-Loops erfahren. So ergibt sich ein sehr individuelles »Bild« des LYNN HERSHMAN-Antikörpers.
»Loops« oder »Schleifen« sind räumliche Strukturen der Proteinkette. Sie können verschiedene räumliche Konformationen annehmen und man kann sich vorstellen, dass sie wie Finger das Antigen zu greifen vermögen. (Im Bild unten orange ist der Lynn Hershman-»Loop«)
Mittels »Modelling«-Software kann man einen kleinen Teil der Aminosäurenkette in einer bestehenden Proteinstruktur ersetzen. Die Software errechnet dann die energetisch bevorzugte räumliche Anordnung der neuen Aminosäuren unter Berücksichtigung der Gesamtstruktur des Proteins.
Wie individuell, d.h. an ein lebendes Individuum gebunden, sind Antikörper? Kann man von so etwas wie einer individuellen Signatur sprechen, bzw. worin besteht die Abgrenzung eines Antikörpers von seiner Umwelt, von anderen Antikörpern, von an gleichen Antigenen gebildeten Antikörpern? Der Prozess der Antikörpergenerierung in unserem Körper ist einerseits exakt definiert, lässt andererseits aber auch Ungenauigkeit und Zufälligkeit zu. Nur so ist es möglich, eine hinreichend große Diversität an neuen Antikörpersequenzen zu erhalten, die es ermöglicht, zuvor unbekannte Pathogene abzuwehren. Jeder Mensch generiert ein individuelles Repertoire an Antikörpern. Jedes Individuum findet unterschiedliche Lösungen, ein Antigen/Pathogen zu neutralisieren. Wenn unser Körper zweimal unvorbereitet die gleiche Krankheit bekämpfen müsste, würde er aufgrund der Kontingenz des Prozesses dazu wahrscheinlich unterschiedliche Antikörper entwickeln. Es ist somit auch unwahrscheinlich, dass zwei verschiedene Personen identische Antikörpersequenzen gegen das gleiche Antigen entwickeln. In diesem Sinne könnte man Antikörper als etwas Individuelles bezeichnen.
Selbsttoleranz und Fremdtoleranz sind Begriffe aus der Immunbiologie. Im Begriff der Toleranz steckt ja bereits eine gewisse Variabilität bei der Bestimmung von Gleichem und Anderen, was nicht zuletzt im Feld der Autoimmunreaktionen relevant sein dürfte. Können Sie uns aus immunologischer Sicht grob beschreiben, wie man sich dieses Wechselspiel vorstellen kann und inwiefern es sich von unseren lebensweltlichen Vorstellungen von Identität und Andersheit unterscheidet? Welche Bedeutung kommt den Grenzbegriffen eines absolut Identischen oder Fremden aus der Perspektive der Immunbiologie zu? Unser Immunsystem erbringt täglich Höchstleistungen bei der Unterscheidung körpereigen-körperfremd, »gut« und »böse«. Es macht dies mit einer enorm hohen, nahe bei 100% liegenden Präzision. Eine Toleranz gegenüber allem Körpereigenem ist wichtig, da sonst unser Gewebe angegriffen würde. Fehlleistungen in diese Richtung werden als Autoimmunerkrankungen beschrieben. Neben Pathogenen (fremd) müssen auch kleinste Abweichungen von körpereigenen Mustern erkannt werden (eigen, aber »böse«), da sich sonst zum Beispiel Tumore ausbreiten. Unser Körper kann also – wenn auch leider nicht immer – erkennen, dass etwas Eigenes ausser Kontrolle gerät. Ebenso hat sich unser Körper mit unzähligen fremden Organismen arrangiert, unserem »Mikrobiom«, und lässt ihnen Raum auf und in unserem Körper, im gegenseitigen Nutzen. Die Antikörperproduktion ist ein sehr energieaufwendiger Prozess. Die allermeisten Antikörper, die unser Körper bildet, sind unnütz und deren Produktion muss schnellstmöglich eingestellt werden, um Ressourcen zu schonen.
Ist die Unterscheidung von tierischen, menschlichen oder rein synthetischen Antikörpern relevant, oder ist nicht gerade die Immunbiologie prädestiniert, transhumanen Vorstellungen zukünftigen Lebens Vorschub zu leisten? In welchem Maße operiert die heutige Forschung bei der Entwicklung von Therapien und Immundispositiven künstlich und völlig neuartig? Antikörper von anderen Organismen bergen ein großes Risiko im Menschen als fremd und selbst als »Antigen« erkannt zu werden. Schlüsseltechnologien, wie die »Hybridoma«-Generation von Köhler und Milstein ermöglichen seit den siebziger Jahren, gezielt Antikörper gegen gewünschte Proteine (Targets) herzustellen. Die frühen Methoden beruhten auf der Verwendung von Maus-Antikörpern auch als Therapeutikum. Schnell wurde erkannt, dass Patienten neutralisierende Antikörper gegen das Therapeutikum entwickelten, was den therapeutischen Nutzen verringerte. Wachsendes Verständnis und fortschreitende Technologie (synthetische Bibliotheken, transgene Mäuse, humane Antikörperquellen) ermöglichten es, »humane« Antikörper mit besseren Eigenschaften zu erzeugen und so die Anzahl Patienten mit neutralisierenden Antikörpern zu verringern. Ein Restrisiko bleibt aber selbst bei der Verwendung von humanen Antikörpern, da nebst der Sequenz auch die biophysikalischen Eigenschaften, die Anwendung und die Target-Biologie eine Rolle spielen.
Auf der Suche nach verbesserten oder gänzlich neuen Therapiemöglichkeiten werden auch neuartige Antikörperformate propagiert, die es so in der Natur nicht gibt. Diese bieten zum Beispiel die Möglichkeit, verschiedene Targets gleichzeitig zu binden. So können etwa körpereigene T-Zellen darauf aufmerksam gemacht werden, Tumorzellen anzugreifen (Redirected T-cell Killing) oder es können auch körpereigene T-Zellen so modifiziert werden, dass sie einen Antikörper gegen einen Tumor auf ihrer Oberfläche exprimieren und ihn so eliminieren (CART-Therapien).
Was wird mit dem LYNN HERSHMAN Antikörper geschehen? Wenn man überhaupt von Leben sprechen kann, worin wird dann sozusagen sein zweites Leben bestehen? Zusammen mit Lynn sind wir daran, den LYNN HERSHMAN-Antikörper und seinen Herstellungsprozess formal zu beschreiben und seine Struktur zu hinterlegen. Dieses Dokument könnte einer wissenschaftlichen Publikation entsprechen und jedem, der dazu Zugang hat, ermöglichen, den LYNN HERSHMAN-Antikörper darzustellen und herzustellen. Ob und wie dieser Bericht publiziert wird, muss mit der Künstlerin aber noch abschließend besprochen werden. Das Experiment zur Bestimmung der Funktionsweise des Antikörpers steht noch aus. Eine (sehr) kleine Chance besteht, dass der Antikörper ein oder mehrere Antigene bindet. Die Daten werden auf jeden Fall mit Lynn besprochen und mögliche weiterführende Vorgehensweisen diskutiert.