Die vom Tagesjournalismus her geprägte Vorstellung von der Kritik als Instanz der Bewertung und Vergleichung von Kunst zuhanden eines Publikums schränkt das in der Interpretation von Kunst liegende Potenzial unnötig ein. Eine andere Vorstellung, die Kritik als Vervollständigung des Werks begreift und sich den Eigenheiten der jeweiligen Kunst in dem Maße öffnet, wie sie sich den Ansprüchen von Wissenschaft verschließt, ist seit der Frühromantik vorgeprägt. Sie wurde in für die Gegenwart relevanter Weise u.a. von Peter Szondi, Maurice Blanchot und Jean Starobinski im Sinne eines »philologischen Wissens« vertiefend reflektiert. Ihre Aspekte lassen sich im vergleichenden Blick auf das ganze Spektrum der Künste und, innerhalb der Künste, mit Blick auf den Werkbegriff und Praxen einer »künstlerischen Kritik« fruchtbar machen.
»Manche Bücher bedürfen keiner Rezension, nur einer
Ankündigung. Sie enthalten schon die Rezension mit.«
Novalis
»Wir sind die ersten Filmemacher, die wissen, dass Griffith gelebt hat«,1 sagte Jean-Luc Godard in einem Interview aus dem Jahr 1962. Das klingt, wie manches, was Godard sagt, auf Anhieb überspitzt, ja anmaßend, und trifft doch präzise einen Sachverhalt. Die Regisseure der Nouvelle vague, so behauptet Godard, waren die ersten, die sich als Erben einer Geschichte ihrer Kunst betrachteten und ihr eigenes Kino als die Fortschreibung dieser Geschichte verstanden. Man könnte auch sagen: Sie waren die ersten, die ihr Geschichtsbewusstsein zur Schau trugen und ihre Kunst als Medium der Reflexion auch und gerade der Geschichte dieser Kunst verstanden. Als Eisenstein ganz am Ende seines Lebens eine Skizze für eine »Allgemeine Geschichte des Kinos« formulierte, entwarf er das, was man im neueren Jargon der Medienwissenschaft als eine »Medienarchäologie« des Kinos bezeichnen würde: Das Kino bündelt und vollendet die älteren Künste; als Kunstform eigenen Rechts aber ist das Kino neu und ohne Präzedenz.2 Die Regisseure der Nouvelle vague hingegen schreiben Filmgeschichte im Modus der Paläontologie: Sie fragen nach ihren Vorfahren und rekonstruieren ihre Abstammung von den Urmenschen des Kinos. »Der Dinosaurier und der Säugling« lautet nicht von ungefähr der Titel eines Interviews, das Godard 1967 mit Fritz Lang führte und das von André S. Labarthe fürs französische Fernsehen aufgezeichnet wurde.
Mit Stanley Cavell könnte man auch sagen, dass das Kino erst in diesem Moment wirklich zur Kunst wird: Nicht schon in dem Moment, in dem es im Sinne von (und mit) Eisenstein die anderen Künste vollendet, sondern in dem Moment, in dem es seine ganz eigene Geschichte erhält und diese zu be- und verarbeiten beginnt. Die Frage ist nicht, ob das Kino eine Kunst sein kann, schreibt Cavell in seinem Buch »The World Viewed« von 1974, die Frage ist vielmehr, wie es ihm so lange erspart bleiben konnte, eine Kunst zu werden. »Kunst« in diesem Sinne setzt voraus, dass es eine Geschichte der Kunst und ein historisches Bewusstsein als »Medium« für ihre Entwicklung gibt. Nur in Absetzung von (und somit: Bezugnahme zu) dem, was früher schon der Fall war, ist die Herstellung von Neuem möglich.
Die Künstlerin oder der Künstler muss zunächst einmal Kunsthistorikerin oder Kunsthistoriker sein, oder genauer noch: Genealogin oder Genealoge ihrer oder seiner selbst. Das klassische Hollywood-Kino – und vor allem der Tonfilm aus der Zeit vor 1960 – kam, so Cavell, noch ganz ohne dieses historische...