In den 1960er Jahren riefen Georg Picht und Ralf Dahrendorf die »Bildungskatastrophe« aus. Die Antwort war: Bildung für alle. Der Bologna-Prozess ist gescheitert. Als sein Ergebnis zeichnet sich eine neue Bildungskatastrophe ab: Keine Bildung für alle! Was zwei Weltkriege nicht geschafft haben, könnte Bologna erreichen: die deutsche Universität zu zerstören.
Hemmungslos schleudert eine Anti-Bildungs-Bildungsreform ihre Plastikwörter – Exzellenz, Kompetenz, Effizienz, Modularisierung und so weiter und so fort – hervor, und eine teils eingeschüchterte, teils sympathisierende Rektoren- und Professorenschaft setzt sie in die Wirklichkeit um. Die Lebenslüge der Bildungspolitiker aber kommt in der Unverfrorenheit zum Ausdruck, mit der sie ihre Plastiksprache für die Wirklichkeit selbst nehmen. Man sagt »Bachelor« und setzt die McDonaldisierung der deutschen Universität in Gang: Fast Food entspricht Fast Education. Modualisierung löst die in Jahrzehnten gewachsenen Fachstandards und Diskursfelder auf. Die chronisch unterbesetzten Sozial- und Geisteswissenschaften können am Ende ihre eigenen fachwissenschaftlichen Abschlüsse nicht mehr anbieten. Der letzte Vertreter seines Faches knipst das Licht aus.
Damit alles dennoch seine Ordnung hat, bildet der Staat eine Art McKinsey-Stalinismus heran: Netzwerke aus Akkrediteuren, Evaluierern, Bildungsplanern und Bildungsspitzeln. Das erinnert verdammt an die DDRisierung der BRD. Ich schlage vor, dass die Studierenden jährlich jeweils an ihrer Universität, aber auch auf nationaler Ebene den »Margot-Honecker-Preis« für die herausragendste Absurdität im ganz normalen Wahn der Bildungspolitik öffentlichkeitswirksam vergeben. Denn es sind die Studierenden, und nur sie, die die Initiative ergriffen haben und die Universität, die Idee der Universität gegen die staatlich sanktionierte Übermacht der Reformattacken mit viel Zivilcourage verteidigen. Das spricht dafür, dass der demokratische Geist, der allseits beschworen wird, dennoch lebt.
Seit den 1960er Jahren, so wurde im Rückblick ironisch angemerkt, wächst täglich die Zahl der Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime. Nach den Überraschungserfolgen der Studentenproteste gegen eine Reform, die ihnen eine Wochenarbeitszeit von 60 Stunden abverlangt, wächst täglich die Zahl der Professoren und öffentlichen Kommentatoren, die »immer schon« dagegen waren. Allerdings droht sich die neu entflammte Debatte in den technischen Details der Bildungspolitik zu verlieren, während die Frage nach der Alternative – welche Universität wollen wir? – ausgeblendet bleibt. Diese Frage möchte ich hier aufgreifen und in zwei Schritten erörtern: Welcher historische Wandel erschüttert das Hochschulwesen? Und welche Rolle soll die reformierte Universität in der veränderten Welt spielen?
In Harvard kann man lernen: Der Humboldt’sche Bildungsbegriff ist moderner denn je. Fast alle scheinbar ewigen Formen, Unsicherheit zu bewältigen, verlieren an Bedeutung – in Familie, Ehe, Geschlechterrollen, Klassen, Parteien, Kirchen, zuletzt der Wohlfahrtsstaat. Auf...
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war bis 2009 Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und ist BJS Visiting Centennial Professor für Soziologie an der London School of Economics and Political Science.
Unbedingte Universitäten (Hg.)
Was passiert?
Stellungnahmen zur Lage der Universität
Broschur, 416 Seiten
PDF, 416 Seiten
Der Band versammelt Positionen, die aus aktuellen Protestbewegungen agieren oder zu ihnen Stellung beziehen. Positionen, die jüngste Veränderungen des Hochschulwesens beschreiben und reflektieren, auf Gefahren aufmerksam machen, ebenso aber Möglichkeiten aufzeigen und explizite Forderungen stellen. Es sind Stellungnahmen, Bekenntnisse, Positionspapiere, geschrieben von zeitgenössischen Autoren, von Professoren, Studenten, Kollektiven. Stimmen werden laut, die wütend, nachdenklich, pragmatisch, unerbittlich einstehen für die Forderung, sich heute mit der Lage der Universität auseinanderzusetzen.