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Sergej Eisenstein: Disney
Disney
(S. 215 – 222)

»Was sich bewegt, ist also beseelt…«

Sergej Eisenstein

Disney

Übersetzt von Oksana Bulgakowa und Dietmar Hochmuth

PDF, 8 Seiten

I

Tiere stehen im Unterwasserzirkus für Tiere: und zwar Fische für Säuger.

In Disneys Gesamtwerk stehen Tiere für Menschen.

Es ist dieselbe Tendenz: eine Wandlung, eine Verschiebung, ein eigenartiger Protest gegen die metaphysische Unbeweglichkeit des ein für alle Mal Gegebenem.

Bezeichnenderweise ist eine derartige ›Flucht‹ in die Tiergestalt und die Vermenschlichung von Tieren offensichtlich charakteristisch für viele Epochen, in deren Gesellschaftssystem oder in deren Philosophie besonders wenig Menschlichkeit zu spüren ist, sei es das amerikanische Maschinenzeitalter in seiner Wirkung auf Lebensweise, Existenz und Moral – oder die Epoche … der mathematischen Abstraktion und der Metaphysik in der Philosophie.

Dabei ist interessant, dass eines der kraftvollsten Beispiele für die Renaissance des Tierepos ausgerechnet vom Zeitalter der systematisierten Metaphysik, dem 17. Jahrhundert, beigesteuert wird. Genauer gesagt: dem 18. Jahrhundert, das unter dem Zeichen ihrer Überwindung verlief.

»[…] Je weiter das siebzehnte Jahrhundert ins achtzehnte hinüberwächst, desto strenger werden die Regeln. Die Sprache wird immer verfeinerter, das Hübsche tritt an die Stelle des Schönen, das Etikett legt die kleinste Geste und die Konversation fest; ein Regelwerk bestimmt, wie man Platz nimmt und wie man sich kleidet, wie man eine Tragödie schreibt und wie man eine Rede hält, wie man zu kämpfen und zu lieben, zu sterben und zu leben hat: Die Literatur wird zu einer Maschine, die Phrasen ausstößt, und der Mensch zur Puppe, die sich verbeugt. Es scheint, dass Rousseau als erster die Natur entdeckt hätte, als er gegen die Begrenztheit dieses künstlichen Lebens in seinen Reden rebellierte; La Fontaine hat die Natur vor ihm erkannt, jedoch ohne zu rebellieren und zu deklamieren […]« Hippolyte Adolphe Taine, La Fontaine et ses fables (1853), Paris, Libraires Hachette, 1870 [übersetzt ins Russische von Eisenstein].

Was Rousseau in offener Polemik vertrat und in Losungen formulierte, hatten La Fontaines Werke vor ihm durch das künstlerische Bild und die Form getan: »Er verteidigte seine Tiere gegen Descartes, der aus ihnen Maschinen gemacht hatte. Er gestattete es sich nicht, zu philosophieren wie die Akademiker, sondern schlug schüchtern vor, ja bat bescheiden um die Erlaubnis, Ratten und Kaninchen zu ihrem Gebrauch à l’usage eine Seele erfinden zu dürfen.« Mehr noch: »Ähnlich wie Vergil bemitleidet er Bäume und schließt auch sie nicht vom allgemeinen Leben aus. ›Die Pflanze atmet‹, sagt er. Während die künstliche Zivilisation die Bäume von Versailles zu Kegeln und anderen geometrischen Körpern beschnitt, wollte er ihrem Grün und ihren Sprössen die Freiheit erhalten […]«1

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Sergej Eisenstein

(1898–1948) war ein russischer Regisseur und Theoretiker der Avantgarde, den man vornehmlich für seine umfassende Theorie und Praxis der Montage kennt. Viele seiner späten Filme und Schriften blieben wegen der Stalinistischen Zensur unvollendet oder unveröffentlicht. Mit Oktober (Oktjabr’) reinzenierte er 1928 ebenfalls den Sturm auf den Winterpalast mit filmischen Massenszenen.

Weitere Texte von Sergej Eisenstein bei DIAPHANES
Irene Albers (Hg.), Anselm Franke (Hg.): Animismus

Der »Animismus« ist eine Erfindung der Ethnologie des 19. Jahrhunderts, geprägt auf dem Höhepunkt des europäischen Kolonialismus. Animisten bevölkern die unbelebte Natur mit Seelen und Geistern. Das erklärt man als eine die materielle Realität verkennende »Projektion«, durch die den Dingen und der Natur Leben und Handlungsmacht zugeschrieben wird. Animismus wird so zum Gegenbild moderner Wissenschaft, zum Ausdruck eines »Naturzustands«, in dem Psyche und Natur als ungeschieden gelten. Wenn sich letzthin ein neues Interesse am Animismus herausgebildet hat, liegt das nicht daran, dass der Begriff als wissenschaftliche Kategorie rehabilitiert wurde. Vielmehr ist die kategorische Trennung von subjektiver und objektiver Welt selbst in Bewegung geraten.

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