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Stefan Porombka: 1981
1981
(S. 137 – 147)

Über den Untergang der guten alten Unterhaltung

Stefan Porombka

1981
Die große Untergangsshow. Das Festival der Genialen Dilletanten

PDF, 11 Seiten

Am 4. September 1981 fand im Berliner Tempodrom Die große Untergangsshow statt: das Festival Genialer Dilletanten. Bereits mit der Falschschreibung des Begriffs »Dilletanten« in der Ankündigung machten die Veranstalter deutlich, dass sie mit ihrer Show nicht die Absicht hegten, professionellen ästhetischen Standards zu genügen. Stattdessen setzten sie ganz auf ein regelloses Improvisieren, mit dem sich im Sinne einer subversiven ästhetischen Strategie das Bestehende kritisieren und im Moment der Performance überschreiten ließ. Dabei kennzeichnete die »dilletantische« Strategie nicht nur die Show selbst, sondern auch deren Dokumentation im entsprechenden Merve-Band sowie die betont unprofessionellen Video- und Tonaufnahmen. Der Beitrag rekonstruiert die spezifische Ästhetik, mit der die »genialen Dilletanten« operierten, sowie den politischen Kontext, in dem die Show stattfand.

1981
Die große Untergangsshow
Das Festival der Genialen Dilletanten

Wer nicht dabei war, als am 4. September 1981 im Berliner Tempodrom Die große Untergangsshow über die Bühne ging, kann sich das Filmmaterial anschauen, das 25 Jahre später zusammengeschnitten und auf DVD veröffentlicht worden ist. Man sieht dann gleich, dass die Veranstalter keinen Wert darauf gelegt haben, ein professionelles Kamerateam mit der Dokumentation zu beauftragen. Zu sehen sind lediglich Schnipsel, die manchmal mitten im Auftritt einer Band oder einer Zwischenmoderation beginnen und gerne auch mal ebenso abrupt enden. Selbst im Nachhinein hat man sich am Schneidetisch nicht viel Mühe gegeben, die Übergänge weicher zu gestalten. Der Film wird dominiert vom harten Schnitt, der Stück für Stück von dem aneinandersetzt, was an Material von damals übriggeblieben ist. Bilder gibt es nur von einer einzigen Kamera, und die ist auch nicht gerade günstig positioniert. Der Kameramann steht in dritter, vierter Reihe im Publikum, hebt das Gerät etwas über Kopfhöhe und hält recht wackelig auf jene drauf, die oben auf der Bühne stehen. Die Aufnahmen sind zum Teil unscharf, der Ausschnitt ist schlecht gewählt. Immer wieder zoomt die Kamera hin und zurück, manchmal verrutscht sie, dann verschwimmt alles, verwackelt und verzerrt. Ganz offensichtlich hat man es hier mit den Aufnahmen eines Dilettanten zu tun, der eher spontan darauf gekommen ist, das Festival zu filmen, und nun mit recht beschränktem technischen und dokumentationsästhetischen Vorwissen ein wenig mit dem Gerät herumprobiert.

Die Audioaufnahmen sind übrigens nicht viel besser. Auch hier bleibt das Material weit unter dem state of the art von Fernsehen, Radio und Musikindustrie. Teils klingt es dumpf, teils scheppert es ganz ohne Bässe, mal ist es über-, mal untersteuert. Das liegt nicht nur an den mangelhaften Aufnahmegeräten. Verantwortlich dafür ist auch die offensichtliche Unwilligkeit der Veranstalter und Künstler, dem Publikum ein harmonisches Hörerlebnis zu verschaffen.

Überhaupt sind alle, die bei diesem Festival auftreten, definitiv nicht auf Harmonieästhetik eingestellt. Der Einzige, der sich als perfekt abgestimmte Medienfigur präsentieren will, ist der Moderator des Abends. Es ist Wieland Speck. Er tritt im schwarzen Jackett auf. Darunter trägt er ein weißes Hemd, um dessen Kragen eine schmale schwarze Krawatte gebunden ist. Sein Haar ist wasserstoffblond gefärbt, akkurat gescheitelt, der Nacken ist sauber anrasiert. Bis in die kleinste, eher eckig ausfallende Geste hinein präsentiert sich Speck als Mischung aus Gigolo, Entertainer, Kellner und Schwiegersohn. Seine An- und Abmoderationen hat er auf Zetteln notiert, die er sorgfältig in eine Klemmmappe geheftet hat. Von hier liest er die Künstlerlisten ab, als handle es sich um den Menüplan eines Mittelklasserestaurants.

Specks Auftritt ist jedoch das Misslingen eingebaut. Nicht nur lässt er bereits während seiner Einführung Applaus und Lachen vom Band einspielen. Auch stellt er seine aus den Fernsehshows abgeguckte Anbiederei so offensiv aus, dass er zuerst ausgelacht, später ausgebuht und ausgepfiffen wird, zwischendurch dann sogar die Bühne verlassen muss, weil man ihn mit Bierdosen bewirft. Dass Speck sich um all das nicht recht zu kümmern scheint und nach der nächsten Nummer wieder zurückkehrt, als sei nichts passiert, gehört zu seiner Rolle. Er gibt den Dandy, der Outfit und Auftritt im Griff haben und den Saal mit Charisma kontrollieren will, der aber in Wirklichkeit der Situation überhaupt nicht gewachsen ist.

Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass die Künstler, die von Speck angekündigt werden, alles andere als perfekte Mediengestalten sind. Statt Abendgarderobe tragen sie mehrheitlich dunkle, abgerissene, martialisch wirkende Kleidung. Sie zitieren Uniformen, überschminken ihre Gesichter oder treten – wie die Mitglieder des Bandprojekts »Die Tödliche Doris« – in selbstgebastelten, karnevalesken Kostümen auf.

Die Performances sind den ganzen Abend hindurch aggressiv, laut, anstrengend. Geprobt wurde für die einzelnen Nummern offensichtlich nur wenig oder gar nicht. Zum Teil bekennen sich die Künstler dazu, gar keine Instrumente spielen zu können. »Es wird falsch und richtig gesungen, geträllert, gekreischt, gebrüllt. Musik und Theater werden gespielt und im Hintergrund wummern erste Technobässe«, beschreibt Wolfgang Müller, der als Mitglied der »Tödlichen Doris« bei diesem Festival selber einen Auftritt hatte, das Szenario. »Wie das schmeckt? Nun, diese Suppe ist schwer verdaulich, eigentlich ungenießbar – aber sehr gehaltvoll.« (Müller 1982, Beiheft o.S.)

Und er hat recht. Wenn die Band »Kriegsschauplatz Tempodrom« den Abend eröffnet, dann sprechen sich die Musiker noch während des Stückes ab, um es richtig in Schwung zu bringen. Der Sänger von »Wir und das Menschliche e.V.« steht bei der nächsten Nummer ganz offensichtlich unter Drogen, gibt aber ebenso sein Bestes wie der Bassist, der einfach nur denselben Lauf rauf- und runterklappert, wie der Saxophonist, der immer wieder steil an der Basslinie entlang seine Soli improvisiert, und wie der Mann am Synthesizer, der ab der Hälfte des Auftritts sein Gerät zu traktieren beginnt, bis sich die Musik in schrille Geräusche auflöst. »Die Tödliche Doris« wird später vom Moderator ein längeres Erklärungs- und Ergänzungsschreiben verlesen lassen, um dann die dazu passenden Stücke zu spielen, die vorher wohl abgesprochen, aber offensichtlich nicht einstudiert worden sind. Die Band »Vroamm!« bietet mit »Punks & Bullen United« ein veritables Punkstück, für das Sänger, Bassist und Schlagzeuger meinen, sich gar nicht groß abstimmen zu müssen, weil es mit den punküblichen Griffen, Rhythmen und skandierten Textstücken arrangiert ist. Dann singen »Drei Mädels und das Meer« vom Blatt zum Schifferklavier Matrosenlieder. Alexander von Borsig wird das Stück »Hiroshima« (»Hiroshima, Hiroshima, wie schön es war«) mit einem gesampelten Walzertakt beginnen, um gleich darauf seine Stimme mithilfe elektronischer Geräte so zu verzerren, dass es selbst denen, die mit ihm auf der Bühne stehen, geradezu unerträglich wird. Und wenn schließlich die »Einstürzenden Neubauten« mit Blixa Bargeld als Frontmann das Stück »Kollaps« präsentieren, dann drischt zum starren Basslauf und zu Bargelds Schreien ein halbnackter muskulöser Drummer mit Eisenstäben mehr oder weniger rhythmisch auf eine große Eisenstrebe ein.

Der offensichtliche Kontrast zwischen den Performances der Künstler und der Performance des Moderators gehört nicht nur zum Programm des Abends. Er gehört auch zur Programmatik der Veranstalter. Überdeutlich werden soll, dass nichts aufeinander abgestimmt und alles hart aneinandergefügt ist. Gerade weil Wieland Speck daran scheitert, den Abend mit seinen smarten Gesten und Überleitungen als Einheit erscheinen zu lassen, werden die Bruchstellen umso sichtbarer. Zwar wird dem Publikum eine Show versprochen. Vorgeführt aber wird vielmehr, wie man eine Show zerlegt. Immerhin ist damit erfüllt, was der Titel des Festivals ankündigt: Es gibt einen Untergang zu sehen. Nämlich den Untergang der guten alten Unterhaltung.

Die Lust am Untergang ist an diesem Abend aber noch auf andere Weise präsent. Über Westberlin – »diese Stadt des permanenten Untergangs«, wie Wieland Speck sie in seiner Eröffnungsmoderation nennt – hat sich zu Beginn der achtziger Jahre eine große Depression gelegt. Die zieht viel von ihrer Düsternis aus der westdeutschen Großwetterlage. Nicht nur sind die Grenzen des Wachstums durch die Ölkrise und durch die immer deutlicher werdenden Folgen des Raubbaus an der Natur spürbar geworden. Auch ist die Wirtschaft zum Ende der siebziger Jahre in eine Rezession gerutscht, die durch das Ende der großen Utopien der 68er und das Stagnieren der Reformideen der sozialliberalen Regierungen die allgemein empfundene Aussichtslosigkeit verstärkt. Der deutsche Herbst ist noch längst nicht vorüber, die Erinnerungen an den Terrorismus und die anti-terroristische Politik der Bundesregierung prägen die Gefühlslage im gesamten politischen Spektrum. Im schleswig-holsteinischen Brokdorf gibt es im Februar 1981, also neun Monate vor dem »Dilletanten-Festival« in Berlin, rund um die Baustelle für ein neues Atomkraftwerk bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten, die deutlich machen, wie tief der Graben zwischen dem Staat und vielen seiner Bürger aufgerissen ist.

Zu dieser allgemeinen Untergangsstimmung kommt, dass Westberlin nach wie vor Brückenkopfstadt in einem Kalten Krieg ist, der jederzeit eskalieren kann. Hier wird wie nirgendwo sonst die Grenze sichtbar, an der sich die verfeindeten Weltmachtblöcke gegenüberstehen und bereit sind, Waffen aufeinander abzufeuern, mit denen sich der ganz große Untergang auslösen lässt. Nicht zuletzt kann man in der Frontstadt zusehen, wie im Westen Berlins die Bausubstanz zusehends zerfällt. Zwar ist der Wohnraum noch billig. Doch versuchen die Spekulanten kiezweise die Macht zu übernehmen, um die Wohnungspreise durch den Leerstand von Altbauten in die Höhe zu treiben. Gerade weil das alles in Westberlin kaum jemand ertragen kann und deshalb im Laufe der siebziger Jahre vornehmlich junge Leute von Westdeutschland nach Berlin gezogen sind, die hier um Kriegs- und Zivildienst herumkommen und mit ihren Vorstellungen von anderen Lebens-, Arbeits- und Liebesformen experimentieren wollen, hat sich in diesem Soziotop eine in zahllose Subkulturen zerfallende Gegenkultur etabliert, die den Untergang des Alten mit Angstlust beschwört und ihn zugleich offensiv befördern will. Die Wilmersdorfer Spießbürger gehören dabei ebenso zu den Feindbildern wie die Politiker in Bonn und im Schöneberger Rathaus, die etablierten Künstler ebenso wie die Kunstprofessoren und Galeristen. Und so ist man dabei, einen Gegenkulturbetrieb aufzubauen, in dem all das erlaubt ist, was im offiziellen Betrieb undenkbar oder gar verboten ist. Das Festival der Genialen Dilletanten führt die Protagonisten dieser Bewegung für einen einzigen Abend zusammen.

Die ästhetische Strategie der Künstler, die an diesem Abend den Untergang beschwören und befördern wollen, ist nicht darauf ausgerichtet, sich außerhalb der kritisierten Zusammenhänge zu stellen. Sie platzieren sich auf lustvolle Weise mittendrin. Die Idee ist, das Vorgegebene von der Innenseite aus zu sprengen.

Auskunft über diese Strategie gibt ein Sammelbändchen, das Wolfgang Müller, Mitglied der »Tödlichen Doris«, ein halbes Jahr nach der großen Untergangsshow im Westberliner Merve Verlag herausgebracht hat. Auf den Markt gekommen ist es in einem Layout, das sich an dem zu dieser Zeit so modischen Anti-Design der Fanzines der Punkkultur und der Cover-Art der Underground-Tape-Music orientiert. Das Schreibmaschinenschriftbild ist unruhig, integriert sind Kritzeleien und dilettantische Zeichnungen. Es gibt über- oder unterbelichtete, unscharfe Snapshots aller Art, dazu Fotos aus Familienalben und Zeitungen, die zum Teil bereits kopiert sind, noch einmal ins Buch kopiert werden und dabei immer weiter an Qualität verlieren. Keiner der Texte, die hier versammelt sind, hätte es in eine seriöse Anthologie geschafft. Es gibt hingeworfene Skizzen, kurze Notizen, Quatsch-Arrangements, unterkomplexe Reflexionen, Parodien und Pastiches etablierter Formen des Nachdenkens über Kunst und Künstler. Ernsthafte, durchgearbeitete, sauber argumentierende oder mitreißend erzählende Texte gibt es nicht. Obendrein bekennen »Heidi und Peter«, die damaligen Leiter von Merve, dass ihr Verlag nicht mit einem professionellen Unternehmen verwechselt werden darf: »Wir sind Dilettanten und bekennen uns fröhlich dazu, unseriös zu sein, schlechte und billige Bücher zu machen.« (Alle Zitate hier und im Folgenden nach Müller 1982, hier 126)

Müller erklärt in seinem Essay, mit dem das Bändchen eröffnet wird, was es eigentlich heißt, ein wirklich »Genialer Dilletant« zu sein und unseriöse, schlechte und billige Dinge zu produzieren. Man zählt nämlich zu einer Spezies, die zwar gern zum etablierten Kulturbetrieb gehören möchte, auf die aber nur mit Verachtung herabgeblickt wird, weil sie weder eine echte Ausbildung absolviert hat, noch über die notwendigen Kenntnisse in Theorie und Praxis verfügt. Was Dilettanten oder eben »Dilletanten« produzieren, kann aus Perspektive derjenigen, die zum Establishment des Kulturbetriebs gehören, nur misslingen. Es ist Kitsch, Schrott, Abfall, der allenfalls Psychologen, Soziologen oder Ethnologen interessiert. Es ist minderwertig, mangelhaft, billig, peinlich, anmaßend, unbrauchbar, ungenießbar und damit für echte Kenner und Könner eigentlich nicht der Rede wert.

»Geniale Dilletanten« wehren diese Herabwürdigungen nicht ab. Sie nehmen sie an. Sie affirmieren die ihnen zugeschriebene Position im Kunstbetrieb und machen sie zugleich zum Ausgangspunkt für etwas Neues. Das Nichtkönnen, das Halbwissen wird zum eigentlichen Innovationsmotor für die Kunst erklärt. Statt den Regeln zu folgen, setzt Müller auf das anarchische und subversive »Ver-Spielen, das Ver-Schreiben als positive[n] Wert, als Möglichkeit zu neuen, noch unbekannten Ausdrucksmöglichkeiten zu gelangen« (10). Die ästhetische Strategie macht die Destruktion, Irritation, Subversion ebenso zur Bedingung ihres Gelingens wie den konstruktiven, kreativen Umgang mit dem, was durch den Prozess der Destruktion, Irritation und Subversion entsteht.

Während aus der Perspektive der »Genialen Dilletanten« das Akzeptieren von institutionellen Vorgaben und das Absolvieren von zertifizierten Ausbildungsgängen zu einer zunehmenden Verkrustung der Verhältnisse und zu einem Erlahmen der Kreativität führt, stellt man selbst auf den Modus der anarchischen Unberechenbarkeit um. Dementsprechend hat, stellt Müller fest, der

»Dilletantismus auf musikalischen (aber auch allen anderen möglichen) Bereichen […] nichts mit Stillstand durch Nicht-Professionalität zu tun – ganz im Gegenteil – Entwicklung unter Einbeziehung aller möglichen und angeblich unmöglichen Bereiche kann einen universellen Ausdruck finden, dem die Profis hilflos unterlegen sind« (11).

So werden die Profis zu Dilettanten erklärt. Die »Genialen Dilletanten«, die ihr Nicht-Können und Halbwissen produktiv einsetzen, verwandeln sich dagegen in echte Avantgardisten. »Mit der endlosen Kette der Verfeinerung und Ver-Komplizierung von Instrumenten und Aufnahmetechniken«, schreibt Müller,

»die einen ›Fortschritt‹ dort aufzeigen wollen, wo Leere sichtbar wird, kann Dilletantismus in provozierender Form einen Schock auslösen, indem er diesen sog. Fortschritt – der in seinen Grundgedanken zutiefst überaltert ist – mit Lärm und Krach attackiert.« (11–12)

Alle Verwackelungen, alle Unschärfen, alle Brüchigkeiten, alle Über- und Untersteuerungen, kurz: alle Formen des Misslingens, die etwa am Festival-Dokumentationsfilm so überdeutlich zu sehen sind, erweisen sich damit als Ergebnis des kalkulierten Einsatzes der Strategien eines genialisch gewendeten Dilettantismus. Protestiert wird gegen die Verhältnisse, indem man sich auf dilettantische Weise alles das, was vom Kunstsystem vorgegeben wird, einfach nimmt, damit herumspielt und schließlich eigenen Verwendungszwecken unterwirft. Alles wird in Material verwandelt. Es wird ohne Rücksicht auf Verluste zerlegt und dann wieder zusammengefügt. Vorgeführt wird die Zerstörung des Anerkannten und Etablierten, um an Ort und Stelle etwas Neues entstehen zu lassen, das so neu ist, so schräg und schrill und laut, dass es erst mal einen Schock auslöst.

Kronzeugen für den Erfolg dieser Strategie sind für Müller die »Einstürzenden Neubauten«. Nicht nur nehmen sie im Genialen Dilletanten-Bändchen einen prominenten Platz ein. Auch wurden sie bereits auf dem Festival als die wahren Stars des Abends gefeiert. Es ist kein Zufall, dass Blixa Bargeld nicht nur die Besetzung der Formel »Ich bin ein genialer Dilletant« zugeschrieben wird. Er soll der Legende nach auch für die Falschschreibung der »Diletanten« als »Dilletanten« verantwortlich sein und daraus das Konzept des produktiven Verschreibens entwickelt haben, das dann später von Müller übernommen worden ist.

In Müllers Sammelbändchen wird gleich in zwei Kleinstreportagen von den Probenarbeiten der »Neubauten« berichtet. Da folgt man ihnen an einen denkbar ungastlichen Ort, der sich »eine halbe Stunde von der letzten Busverbindung entfernt« (21) irgendwo am Rande von Westberlin befindet. In der Nähe sieht man Blixa Bargeld als letzten Menschen nach dem Untergang

»durch Geröllhalden […] auf dünnen Trampelpfaden [wandeln], Ausschau haltend nach Material für primitive Arbeit. Der große Krieg ist längst vorbei und unter Trümmern findet sich so allerlei, ein Stück Blech, ein halb zerschmolzenes Kinderklavier, Preßlufthammer und Bohrmaschine« (26).

Zugang zum nur sechs Quadratmeter großen Übungsraum, in dem man sich nicht einmal aufrichten kann, findet man nur über eine unscheinbare Öffnung in einer Betonmauer. Von oben dröhnen die Autos und Schwertransporter, im Raum selbst werden mit Blechnäpfen, Stahlteilen, rostigen Deckeln, Holz- und Eisenstangen sowie Bowlingkugeln Geräusche erzeugt. Zur »ständigen Luftkontrolle« muss in dem fensterlosen Raum »eine Kerze entfacht« (21) werden. Strom wird »aus einer eiligst zusammengebastelten Windmaschine erzeugt« (26).

Wer zuhört, wie »Blixas Freund Andrew […] rostige Eisenfedern rhythmisch mit Holzstöcken bearbeitet«, ist geschockt: »Umherirrende Horden, an komplizierteste Technik gewöhnt, sind noch taub vor Entsetzen« (ebd.). Den überforderten Journalisten, die von den »Neubauten« eingeladen worden sind, soll ein für alle Mal klar gemacht werden:

»Hier wird keine Musik mehr produziert, hier wird richtig gearbeitet und durch Arbeit entsteht Krach. […] Für die verständigen Hörer/Genießer des Krachs – die wir beileibe nicht in den schicken Avantgarde-Zirkeln vermuten sollten – funktioniert das Zeichen ›Musik‹ in diesem Zusammenhang als ironischer, polemischer Angriff, eine Ironie, ein Witz, den Musiker und ›Anti-Musiker‹ an den Einstürzenden Neubauten immer so weinerlich vermissen« (24–25).

Wenn es die ästhetische Strategie der »Genialen Dilletanten« ist, sich nicht außerhalb jener Zusammenhänge zu stellen, die sie kritisieren und überwinden wollen, sondern die Gegebenheiten von innen her zu sprengen, dann wird das an diesem Ort exemplarisch vorgeführt. Auch wenn der Probenraum der »Neubauten« an der Berliner Peripherie liegt, so liegt er doch mittendrin. Nicht zufällig hat man sich eine kleine Höhle gesucht, eine »wahrhaftige […] Gebärmutter« (21), die in einem Sockel liegt, über den eine Autobahn führt. In diesem kleinen Raum ist man umgeben vom Beton, aus dem die Zivilisation geformt ist. Um die Artefakte dieser Zivilisation geht es auch, wenn Blixa Bargeld auf den Geröllhalden umherläuft. Dort eignet er sich das Weggeworfene als Kulturschrott an, probiert es aus, funktioniert es um und speist es wieder ein.

Das läuft nicht nach vorgegebenen Regeln. Auf jeder Ebene der »Neubauten«-Produktion geht es um Improvisation. Der Probenraum ist ebenso improvisiert wie das technische Gerät, mit dem der Strom erzeugt wird. Bei der Suche nach den Instrumenten und Gegenständen wird ebenso improvisiert wie später im Probenraum mit dem gefundenen Material. Und improvisiert wird auch dann, wenn die Stücke Schritt für Schritt weiterentwickelt werden. Nicht nur einmal, sondern immer wieder. Denn nichts von dem, was hier gespielt wird, wird so notiert, dass man es beim nächsten Mal wieder genau so spielen könnte. Es gibt »eigentlich immer nur Spannungsbögen«, sagt Blixa Bargeld. »Wir suchen uns eine Startbahn aus, was dann passiert, hängt vom Raum, vom Publikum oder vom Aufbau ab.« (30)

Exakte Wiederholbarkeit wird abgelehnt. Beim nächsten Mal wird man sich der Idee des »Genialen Dilletantismus« entsprechend wieder »ver-spielen« und etwas anderes hervorbringen, gerade weil man nicht in der Lage sein will, ein für alle Mal festzuhalten, was man tut. Selbst wenn man es versucht, macht man es nur wieder als »Genialer Dilletant«. Dann schreibt man keine Noten auf, sondern kritzelt auf Papier, was man später erst einmal wieder ganz neu übersetzen und interpretieren muss: »[M]eist sind ohnehin nur Grundgerüste vorhanden, die im Studio oder auf der Bühne ausgearbeitet oder völlig verändert/umgekippt werden« (ebd.).

Genau das ist die Formel, mit der sich die ästhetische Strategie der »Genialen Dilletanten« am besten verstehen lässt. Mit ihr wird nicht nur auf den Punkt gebracht, was die »Einstürzenden Neubauten« tun. Es trifft im Kern auch das, was im September 1981 die große Untergangsshow bestimmt hat. Alle Ideen, alle Konzepte, alle Planungen, die es im Vorfeld für diese Veranstaltung gab, waren eben nicht viel mehr als Grundgerüste, die dann vor Ort nicht eins zu eins umgesetzt, sondern im Modus der Improvisation weiterbearbeitet worden sind.

Auf den Punkt gebracht wird mit der Formel aber auch das, was die Ästhetik der Bilder und Texte ausmacht, die Wolfgang Müller in seinem Merve-Band versammelt hat. Jedes Stück, das hier abgedruckt ist, gibt das deutliche Signal, nicht in letztgültiger Form zu erscheinen. Markiert ist immer nur ein improvisierter Zwischenstand, der weiterbearbeitet werden muss. Geboten wird statt Endergebnissen Material, aus dem sich irgendwann von irgendwem noch einmal irgendetwas machen lässt. Wobei nicht festgelegt ist, was dann daraus werden könnte. Es kann verändert, aber eben auch ganz umgekippt werden.

Deutlich wird damit, wie sehr das Projekt der »Genialen Dilletanten« auf totale Improvisation angelegt ist. Allerdings wird der Begriff der Improvisation bei keiner der Aktionen offensiv verwandt. Kein Wunder, gehört doch das Improvisieren in den Bereich der Akademien, die von den »Genialen Dilletanten« so verachtet werden. Das Improvisieren lernt dort noch jeder bildende Künstler und Musiker, der sich professionell ausbilden lässt. Würden sich die »Genialen Dilletanten« die »Genialen Improvisatoren« nennen, könnten sie dementsprechend zwar ziemlich genau fassen, was sie eigentlich tun. Aber sie würden ihr Selbstverständnis verfehlen, weil sie ja nicht dafür, sondern dagegen sein wollen. Während das Improvisieren als künstlerische Strategie hauptamtlich anerkannt ist, kann es das Dilettieren grundsätzlich nicht sein. Der Dilettant bleibt der Definition nach vom Establishment ausgeschlossen. Würde man ihn dazu zählen wollen, wären die Grenzen des Establishments automatisch aufgelöst – und den Dilettanten gäbe es dann ebenso wenig wie den Könner, den Kenner oder Profi.

So wird erst durch diese negative Abgrenzung das »geniale Dilletieren« zum wahren Improvisieren. Die »Genialen Dilletanten« sind zu einem echten, haltlosen, nicht regelbaren Improvisieren gezwungen. Weil sie auf das zurückgreifen, was vorgegeben ist, aber dieses Vorgegebene nicht nach allen Regeln der Kunst bearbeiten können und wollen, müssen sie jedes Mal neue Wege suchen, um mit ihrem Material und ihren Möglichkeiten etwas herzustellen, das mit dem Alten nichts mehr zu tun hat.

Unter dem Deckbegriff des »Genialen Dilletantismus« verwandelt sich das Improvisieren in eine subversive ästhetische Strategie, mit der sich das Bestehende kritisieren und im Moment der Performance überschreiten lässt. Wer improvisiert, beschwört im Umfeld der »Genialen Dilletanten« den großen Untergang und lässt zugleich etwas ganz Neues entstehen. Die »Genialen Dilletanten« erscheinen damit als genau die »jungen, vielversprechenden Talente«, von denen Wieland Speck in seiner Eröffnungsmoderation in vollendeter Ironie sagt, dass sie es sind, die »Berlin, diese Stadt des permanenten Untergangs, zu einem lebenswerten Fleckchen Erde machen«. Denn »wo […] sind denn des Steuerzahlers Mittel besser angelegt als bei eben diesen jungen Menschen, für die Kreativität kein hohles Wort ist, sondern die mit all ihrer Kraft dafür sorgen, dass wir dem nächsten Untergang mit Spaß und Spannung entgegenblicken dürfen.«


Dokumente

Die Große Untergangsshow – Festival Genialer Dilletanten – Berlin Tempodrom, 4. September 1981, CD + DVD + 2 x LP, Friedrichshafen 2005.

— Müller, Wolfgang (Hg.): Geniale Dilletanten, Berlin 1982.

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