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Hans Magnus Enzensbergers »Album«

Nina Hahne

2011
Annäherung an ein Bewusstsein. Hans Magnus Enzensbergers »Album«

PDF, 11 Seiten

Hans Magnus Enzensbergers literarische Collage mit dem Titel Album (2011) entführt den Leser in Grenzbereiche zwischen Poesie und Wissenschaft. Durch das Neu-Arrangieren von eigenen und fremden Texten und Bildern, gesammelten Zitaten und erinnerten Ereignissen entwirft Enzensberger eine Chronik seines Bewusstseins. Ein poetischer und ein naturwissenschaftlicher Zugang zum menschlichen Denken stehen sich dabei stets direkt gegenüber. Auf welche Weise der Leser in diesem teils ungeordneten, teils überlegt gestalteten Raum eigene Einfälle generieren kann, ist das Thema dieses Beitrages.

2011

Annäherung an ein Bewusstsein
Hans Magnus Enzensbergers Album

Enzensbergers Album ist (auch) ein Kunstobjekt. Mit seinem perlmuttfarben schimmernden Einband lockt es den Leser an, um ihn dann in eine Abfolge von Grenzüberschreitungen zu verstricken. Das Buch ohne Seitenzahlen präsentiert Gedichte, Aphorismen, kürzere Prosa- Texte, Abbildungen, Rätsel, Zeitungsausschnitte und vieles mehr in unverbundener Reihenfolge. In Zusammenarbeit mit Franz Greno stellt Enzensberger eigene und fremde Texte und Bilder nach dem Prinzip der Collage zusammen und gibt auf diese Weise eine Momentaufnahme seines Gedächtnisses als Wissensspeicher. Zwei Fotos eines tomographischen Querschnitts durch das Gehirn des Verfassers rahmen das Konvolut von Zeichen ein. Das zweite Foto ist spiegelverkehrt gedruckt, sodass der Querschnitt den Buchblock von beiden Seiten identisch umschließt. Auf diese Weise wird die Idee der »Vorratskammer HME« (so die Bildunterschrift der Tomographie) vom Abstrakten ins haptisch Konkrete übersetzt. Der Leser hält schwarz auf weiß (und teilweise bunt) in seinen Händen, was die medizinische Apparatur durchleuchtet. Zwei Modelle der Sichtbarmachung des Geistigen – ein naturwissenschaftliches und ein literarisches – stehen einander visuell unmittelbar gegenüber.

In Album materialisiert sich somit das Denken des Schriftstellers in ästhetischer Form. Die Buchseiten liegen wie Schichten übereinander und bilden weitere imaginäre Querschnitte ab, in die der Leser beliebig Einblicke nehmen kann, ohne einer Chronologie zu folgen. Enzensberger greift damit zum wiederholten Male seine Vorstellung von der Nicht-Linearität zeitlicher Abläufe auf, die sich in der Funktionsweise des menschlichen Gedächtnisses spiegle. Sein programmatischer Essay Vom Blätterteig der Zeit (1997) veranschaulicht dieses Phänomen als eine Struktur von übereinanderliegenden (Teig-)Schichten, die unendlicher Faltungen fähig seien. Die Unberechenbarkeit dieser Faltungen der Zeit setze einzelne Ereignisse des geschichtlichen Ablaufs immer wieder in plötzliche und unerwartete Verhältnisse zueinander. Der Anachronismus sei daher »kein vermeidbarer Fehler, sondern eine Grundbedingung der menschlichen Existenz« (Enzensberger 1997, 14). Wolfgang Reichmann spricht von einem »dynamischen Modell« der Zeit. Enzensberger richte den Blick nicht nur auf die Möglichkeiten zukünftiger Entwicklungen, sondern betone auch die Veränderlichkeit der Vergangenheit aufgrund ihrer Abhängigkeit vom kontinuierlich und unvermittelt wechselnden Standpunkt des Betrachters (→ Reichmann 2010, 128). Dieses Geschichtsverständnis hat sich nach Ansicht Christian Schlössers bei Enzensberger in der »postapokalyptischen Posthistoire« seit den 1980er Jahren herausgebildet und spreche einer nicht akademisch institutionalisierten Literatur die Deutungshoheit über Vergangenheit und Zukunft zu (→ Schlösser 2009, 30).

Allerdings geht es im Blätterteig-Essay weniger um die Zeit als qualitativ indifferentes physikalisches Phänomen, sondern um die gesellschaftliche Dimension zeitlicher Ereignisse, den Zeitgeist oder die Ideengeschichte. Diese qualitative Dimension ist es, die – quer zur wahrgenommenen Linearität des zeitlichen Ablaufs – diesen immer wieder auf unerwartete Weise durchkreuzt. Die psychologischen Ursachen derart unberechenbarer menschlicher Präferenzen und Entscheidungen erkennt Enzensberger in der schwankenden Balance von Chaos und Ordnung, welche die gesamte (menschliche) Existenz bestimme. Am Ende von Album erläutert EINE MEDITATION ÜBER ALLES, WAS WEISS IST dieses Phänomen als existentielle Opposition und Komplementarität der ›Nicht-Farben‹ Schwarz und Weiß. Das reine Weiß steht hier für ein künstlerisches und gesellschaftliches Ideal, das stets nur in Näherungswerten erreicht werden könne. In jedes menschliche Handeln mische sich das Schwarze und erzeuge auf diese Weise die Abstufungen und Schattierungen der Realität, einen für den Menschen bewohnbaren Raum. Diese Analogie übernimmt Enzensberger in seinem Essay Normale Wunder (2012), um die kreative Haltung des Menschen zur Welt zu veranschaulichen:

»Wir haben es also mit einer mysteriösen Mischung aus Argwohn und Vertrauen zu tun. Ein einfaches Experiment könnte vielleicht zur Lösung dieses Rätsels beitragen. Man nehme einen Topf mit weißer Ölfarbe, gieße einen Schuß Schwarz dazu, nehme ein Stöckchen zur Hand und rühre den Inhalt um. Sogleich entsteht ein Muster von wunderbarer Komplexität, eine Marmorierung, die sich jeder exakten Berechnung entzieht. Natürlich kann man immer weiter im Topf herumrühren, bis am Ende ein ödes, monochromes Grau herauskommt. Soweit kommt es aber nur, wenn unsere Mischung sich wie ein geschlossenes System verhält. Aber in der Realität ist das so gut wie nie der Fall. Immer neue Ingredienzen treten hinzu, so als gösse irgend jemand fortwährend neue Farbe nach, in unserem Experiment also einen Schwall von schwarzem oder weißem Pigment. Wir selber sind es nämlich, die dafür sorgen, daß die Turbulenz nicht ab-, sondern zunimmt, daß das Unwahrscheinliche die Oberhand behält und das Unvorhersehbare siegt.« (Enzensberger 2012, 73)

Die zentralen Themenfelder, die Enzensbergers Werk von Anfang an bestimmen – das Verhältnis von Poesie und Politik, von Poesie und Naturwissenschaft, von Identität, Gedächtnis und Zeit –, kristallisieren sich auch in Album beim Lesen heraus. Die Assoziation des Lesers springt zwischen den einzelnen Elementen hin und her, kehrt wieder zum Ausgangspunkt zurück und bildet konzentrische oder verästelte Ordnungen, die an Lichtenbergs elektrische Figuren denken lassen. Sie vollzieht die analogischen Beziehungen nach, die in dem Buch bereits angelegt sind: Denn der Wissensspeicher ›reagiert‹ offensichtlich auf äußere und innere Impulse, welche die Gedächtnisinhalte in Sekundenbruchteilen neu arrangieren können.

Album ist daher gerade daraufhin angelegt, Einfälle im Leser zu provozieren. Es folgt dabei im Sinne einer ›Ideen-Maschine‹ Enzensbergers Konzept des »Poesie-Automaten«, der »ein Maximum an Mannigfaltigkeit, Überraschung, Polysemie und begrenzter Regelverletzung anstreben« muss (Enzensberger 2000, 31–32). In Album wird ebenfalls eine lediglich begrenzte Regelverletzung betrieben, da es einerseits ohne Inhaltsverzeichnis, Seitenzahlen und Kapitel auskommt, andererseits jedoch die Integrität der einzelnen Texte wahrt. Diese werden nicht verfremdet, sondern lediglich in neue Zusammenhänge gebracht. Die Collage wird durch die Anordnung sinnvoller Zeichen auf den aufeinanderfolgenden Seiten eines Buches in eine der traditionellsten Ordnungsformen des Wissens integriert. Dass diese Feststellung nicht unbedingt banal ist, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass ein Projekt wie Album nicht notwendigerweise an das analoge Speichermedium Buch gebunden ist. Als Buch ist Album zum einen konkret-materiell und nicht abstrakt-digital, zum anderen beliebig reproduzierbar und nicht – wie beispielsweise Enzensbergers Poesie-Automat im Marbacher Literaturmuseum der Moderne – an einen bestimmten Präsentationsort gebunden. Seine sinnliche Qualität und seine flexible Handhabung machen es zu einem idealen Medium, um mit dem einzelnen Leser in einen kreativen Dialog zu treten.

Inhaltlich changiert Album zwischen aktuellem (wirtschaftspolitischem) Statement und romantischer Universalpoesie, irgendwo zwischen G 7 und Novalis’ Monolog. Es richtet sich gegen die sogenannte ›engagierte‹ Literatur und macht die paradoxe Differenz von Konformismus und Non-Konformismus zum Gegenstand einer ironischen Selbstbetrachtung. Diese kündigt sich schon auf der Titelseite an, die den Namen des Verfassers und den Titel des Buches als Kreideschrift auf einer Schultafel präsentiert. Verschiedenste Assoziationsmöglichkeiten eröffnen sich hier: Die schon stark abgenutzte und vielfach ausgewischte Tafel kann – wie die vorausgehende Tomographie – auf die sich immer wieder erneuernde Selbst-›Beschreibung‹ des Geistes (weiß auf schwarz) verweisen. Nahe liegt jedoch auch eine Vorausahnung der zu erwartenden pädagogischen Vereinnahmung des Werkes im (Hoch-)Schulunterricht und anderen Formen der »Bewußtseins-Industrie« (→ Enzensberger 1962) wie zum Beispiel der literarischen Kritik oder dem geisteswissenschaftlichen Tagungsband. Auch die finstere Zeichnung eines Kritikers auf der folgenden Seite, der im Halbschatten und mit erhobenem Zeigefinger über dem Buch lauert, gibt Anlass, in diese Richtung zu denken.

Zwei Beispiele sollen das analogisch-assoziative Verfahren in Album verdeutlichen: Das erste Beispiel bildet eine Doppelseite, die in drei Bereiche aufgeteilt ist: Das linke Blatt präsentiert eine Liste von Begriffsdefinitionen unter dem Titel »Aus dem Vokabular der Wirtschaftskrise«. Das rechte Blatt zeigt die Abbildung eines einstmals opulenten Sessels, der nun zerfetzt und verschmutzt ist. Der Sessel steht vor einem mediterranen Wandgemälde. Das dritte Element bildet ein Zitat aus den Tagebüchern Sándor Márais von 1947, das von der linken Seite zur rechten hinüberläuft und auf diese Weise beide Blätter optisch miteinander verbindet. Es lautet: »Jetzt ist man damit beschäftigt, die Banken zu verstaatlichen. Nicht lange, dann wird man die Staaten verbanken. Und so weiter, immer von vorn« (Enzensberger 2011, o.S. – im Folgenden wird aufgrund der fehlenden Seitenzahlen auf eine Quellenangabe verzichtet).

Den Schwerpunkt dieser Doppelseite bilden die ironischen bis zynischen Erläuterungen geläufiger Substantive aus dem Diskurs der Wirtschaftskrise, deren dekonstruktive Lektüre dem Leser einen Einblick in die Untiefen wirtschaftspolitischer Rhetorik verschaffen soll. So liest man unter dem Lemma »Paket«:

»Paket, das; Sperrgut, das, als stünde Weihnachten vor der Tür, überall geschnürt und auf den Weg gebracht wird. Der Versand der Hilfspakete erfolgt nicht per Nachnahme. Die Rechnung übernimmt auf keinen Fall der Empfänger. Der Inhalt ist mindestens neunstellig und erinnert an ein beliebtes Geschenk zum Kindergeburtstag: an die Wundertüte.«

Und unter dem Lemma »Zertifikat« erhält der Leser folgende Information: »Zertifikat, das; ein Papier, das dem Anleger ein Maximum an Unsicherheit garantiert.«

Enzensberger adaptiert hier das dekonstruktive Lektüreverfahren, wie es Roland Barthes in seinem Aufsatz »Afrikanische Grammatik« praktiziert, der 1965 in Enzensbergers Kursbuch in deutscher Übersetzung erschienen ist. Barthes legt darin den »Einschüchterungswert« des politischen Vokabulars während des französischen Algerienkriegs offen und erläutert dessen Funktionsweise:

»Es bildet also eine Schreibweise, das heißt eine Sprache, die eine Koinzidenz zwischen den Normen und den Fakten herstellen und einer zynischen Realität die Bürgschaft einer erhabenen Moral verleihen soll. Ganz allgemein ist es eine Sprache, die ihrem Wesen nach wie ein Kode funktioniert, das heißt, die Wörter haben hier gar kein oder ein entgegengesetztes Verhältnis zu ihrem Inhalt. Es ist eine Schreibweise, die man kosmetisch nennen könnte, weil sie die Fakten mit einem Sprachgeräusch oder, wenn man lieber will, mit dem bloßen Zeichen der Sprache, das sich selbst genügt, verdecken soll.« (Barthes 1965, 103)

Analog legt Enzensberger den Einschüchterungs- und Verdunkelungswert des wirtschaftspolitischen Vokabulars offen und verweist mit dem Zitat Márais auf die Zyklizität derartiger Vorgänge. Allerdings sind Enzensbergers Begriffsbestimmungen von einer wesentlich stärkeren ironischen Distanz geprägt als die Ausführungen bei Barthes. Durch den Verweis auf die zyklische Wiederholung einer solchen politischen Rhetorik verliert die Kritik viel von ihrer Schärfe und erscheint vielmehr als augenzwinkernd. Auch die Bestimmung des Lemmas »Vertrauen« als »ein Gefühl, um das händeringend geworben wird, weil eine andere Regung, das Mißtrauen, sich als nützlicher erwiesen hat«, macht deutlich, dass es sich hier um die Enthüllung eines offenbaren Geheimnisses handelt, da die Verschleierungsrhetorik ihre Glaubwürdigkeit längst eingebüßt hat. Der zerfetzte Sessel als Sinnbild des wirtschaftlichen Niedergangs Europas verleiht dem gesamten Doppelseiten-Arrangement eine Ästhetik des Verfalls.

Andere Anordnungen lassen sich nicht so einfach in einen thematischen Zusammenhang bringen und fordern (oder überfordern) die kombinatorischen und assoziativen Fähigkeiten des Lesers in weitaus stärkerem Maße. Denn welches Verhältnis von Poesie und Politik eröffnet zum Beispiel jene Doppelseite, auf der links oben in Fettdruck die Frage »Ob das Kunst ist?« steht, während darunter ein Foto und ein erläuternder Text platziert sind, die beide auf Enzensbergers Ausstellung WortSpielZeug (2006) verweisen? Rechts findet sich eine Abbildung der Bild-Parodie Bloom-Zeitung von Bazon Brock aus dem Jahr 1963 inklusive eines Kommentars über die Unvereinbarkeit von Pressefreiheit und Menschenwürde.

Die Text-Bild-Kombinationen sind einander spiegelbildlich gegenübergestellt. Zwei grüne Felder auf beiden Seiten, eins unten, eins oben, unterstreichen den Eindruck eines wechselseitigen Bezugs. Das grüne Feld auf der linken Seite enthält das spanische Sprichwort »Mal de muchos, consuelo de tontos« (»Das Übel der vielen ist der Trost der Dummköpfe«), das Feld auf der rechten Seite enthält ein Zitat von Andrew Marvell von 1672: »It is the wisdome of Cats to whet their claws in meditation of the next Rat they are to encounter.« Auf der rechten Seite befinden sich zusätzlich zwei scheinbar zusammenhanglose Zitate: der Spruch »Wer nicht fähig ist, andere zu bewundern, lebt sehr ungesund« sowie die Sentenz »Der Dichter macht Seidenkleider aus Würmern« von Wallace Stevens.

Was lässt sich daraus machen? Auffällig ist, dass die Bild-Text-Kombinationen auf jeweils unterschiedliche Weise eine Grenzüberschreitung zwischen der künstlerischen und der gesellschaftlichen Dimension der Sprache inszenieren. Im ersten Fall plädiert der Text »Ob das Kunst ist?« für ein Spiel mit Worten, das nicht an Papier gebunden ist. Imaginiert werden innovative Arten von Poesie, die Literatur in das tägliche Leben integrieren und sich damit auch dessen Vergänglichkeit aneignen sollen, etwa »[e]ine Rolltreppe, die auf jeder Stufe eine Gedichtzeile zeigt«, oder »[e]in Fahrrad, dessen Reifenprofil einen Text zeigt, der sich im weichen Boden eines Waldwegs abzeichnet«. Die Bloom-Zeitung wiederum verfremdet die Titelseite der Bild-Zeitung, indem sie jeden Namen darauf oder das zentrale Substantiv jeder Mitteilung durch den Namen »Bloom« (abgeleitet von Leopold Bloom, dem Protagonisten aus James Joyces Ulysses) ersetzt (→ »Bloom im Bild«, 68). Auf diese Weise wird der Nachrichtenwert scherzhaft ausgelöscht und zugleich die aggressive Selbstbezüglichkeit des Schlagzeilen-Systems der Zeitung verdeutlicht.

Beide Text-Bild-Kombinationen präsentieren eine spielerische Grenzüberschreitung zwischen Poesie und Alltag, jedoch mit jeweils völlig anderer Ausrichtung: Während das erste Beispiel dafür plädiert, Alltagsgegenstände poetisch aufzuladen und damit die Gleichursprünglichkeit von Poesie und Leben betont, verwendet das zweite Beispiel die Poetisierung nicht zur Bereicherung und Ergänzung, sondern zur Zerstörung einer unreflektierten Alltagserfahrung.

Zwischen den Zitaten und den Texten lassen sich lockere, assoziative Beziehungen herstellen, die jedoch lediglich einen spekulativen Charakter haben können. Ist das Wetzen der Krallen bei einer Katze mit dem poetischen Spiel des Dichters zu vergleichen, der seine kritischen Fähigkeiten für den ›Ernstfall‹ geschärft hält? Und ist es eine bestimmte Form des Journalismus, die »das Übel der Vielen« in den Mittelpunkt stellt?

Bei all diesen Interpretationsversuchen handelt es sich um Ketten von Einfällen, die auch vollkommen anders miteinander verknüpft werden könnten. Zwar veranlassen die Doppelseiten den Leser durch ihre optische Gestaltung dazu, sie unmittelbar als Sinneinheiten wahrzunehmen, doch lassen sich auch beliebige Verknüpfungen zwischen den entferntesten Elementen des Buches herstellen.

Selbstverständlich gibt Enzensbergers Album keine konkrete Lektüreanweisung. Auf der ersten Textseite findet sich allerdings ein entscheidender Hinweis, der über die grundlegenden Vorannahmen des Buches Auskunft gibt. Unter der Überschrift IHR WISST DOCH, WAS ICH MEINE spricht der Verfasser den Leser direkt an und macht deutlich, dass die Inhalte und Präsentationsform des Buches nicht nur einen autobiographischen Bezug haben, sondern den Vorgang des Denkens abbilden sollen: »Damit wir uns aber recht verstehen, meine Lieben: so und nicht anders geht es zu in unserem Gehirn, einem undisziplinierten Organ, das sich an keine Reihenfolge hält, ohne Inhaltsverzeichnis auskommt und keine Chronologie kennt.«

Indem Enzensberger hier eine grundlegende Ordnungslosigkeit mentaler Vorgänge behauptet, betont er die Invention in der Kognition, ja er überbetont sie sogar. Denn wenn das Gehirn keine Ordnung vorgibt, ist jeder kognitive Akt inventiv, da er eine neue Verknüpfung schafft. Auch das Erinnern ist dann ein genuin inventiver Vorgang. Zusätzlich präsentiert Enzensberger dem Leser jedoch eine idealisierte Version seiner Gedächtnisinhalte: Die Texte und Bilder sind nicht bruchstückhaft oder unscharf, wie sie sich tatsächlich dem einzelnen Bewusstsein darbieten, sondern sie sind vollständig und detailscharf wiedergegeben. Insofern entsprechen sie dem Anspruch auf eine naturgetreue Abbildung des Denkens nicht, sondern stellen eine literarisierte Form kognitiver Inhalte dar, die dem Leser erst einen eigenständigen Umgang mit dem Material ermöglicht. Album legt seinen Lesern also durch seine implizite Regelhaftigkeit – die Präsentationsform des Buches mit (Doppel-)Seiten und vollständigen Texten und Bildern – eine chronologische und sinnstiftende Rezeptionsweise nahe und unterbindet diese an anderer Stelle durch den Verzicht auf Regeln strategisch. Die daraus erwachsende Desorientierung nötigt den Leser zur Improvisation: Im Spannungsverhältnis von Regelhaftigkeit und Regellosigkeit vollzieht er mithilfe der Collage und der Analogiebildung Grenzüberschreitungen zwischen Materiellem und Geistigem, Kunst und Alltag, Poesie und Wissenschaft.

Das »Thema der materiellen Welt im Gegensatz zu den Abstraktionen der Wissenschaft« (Roli 2010, 300), das vor allem auch in Enzensbergers Lyrik zur Geltung kommt, wird in Album mehrfach aufgegriffen. Schon die Kreidetafel auf der Titelseite erinnert an Enzensbergers Gedicht »Schwarz-Weiß-Zeichnung«, das die Unabhängigkeit des Physischen von naturwissenschaftlichen Spekulationen betont:

»Die weiße Kreide in meiner Hand,
meine Herren, besteht,
wie Sie wissen, aus Molekülen.
Die Moleküle bestehn aus Partikeln,
Ladung, Masse, Strangeness und Spin:
Spuren, die sich auflösen
In der Blasenkammer
Und verschwinden, in meiner Hand,
in diesen endlosen Formeln,
die Sie kennen oder nicht kennen,
meine Herren, und die ich hier
an die schwarze Wand zeichne
mit Kreide, mit Kreide, mit Kreide.«
(Enzensberger 1972, 124)

Die dreifache Wiederholung des Wortes »Kreide« am Ende des Gedichts wirkt wie eine Beschwörung des Physischen, die dieses zugleich in seiner Eigenwertigkeit erst sichtbar macht. Sie verweist zudem darauf, dass das Natürliche sich zwar naturwissenschaftlich beschreiben und analysieren lässt, sich jedoch einem letztgültigen Verständnis sperrt und daher für den Menschen unerforschlich bleiben muss. Rainer Barbey hat diese Problemkonstellation von Natur und Geist in Enzensbergers Lyrik dargestellt und die These aufgestellt, dass in den späteren Gedichten – besonders in dem Band Die Geschichte der Wolken (2003) – der Glaube an eine »rettende, heilende Vermittlung von Subjekt, Natur und Geschichte« völlig suspendiert sei (Barbey 2007, 54). Mit seinem Titel Album (= »das Weiße«) bringt Enzensberger somit einerseits seinen Anspruch zum Ausdruck, durch Literatur Widerstand gegen die Verwissenschaftlichung des individuellen Weltbezugs zu leisten, andererseits verweist er jedoch auch darauf, dass ein unmittelbarer, nicht-analytischer Weltbezug unmöglich sei. Hier muss die Literatur als Vermittlerin zwischen Selbst- und Weltbezug einspringen.

Enzensbergers Album ist also ein literarisches Experimental-Buch, das es dem Leser freistellt, sich die Regeln seiner Lektüre selbst zu geben. Er kann die einzelnen Texte und Bilder isoliert voneinander betrachten oder versuchen, Beziehungen zwischen ihnen zu entdecken. Da die meisten Texte dieses »Scrap-Books« auf vergangene Projekte des Autors bezogen sind, ist eine Vertrautheit mit Enzensbergers Werk hilfreich, jedoch nicht unbedingt notwendig. Auch Kinder können die Wortspiele und Anekdoten mit Gewinn lesen.

Das Quellen-Panorama, das Enzensberger präsentiert, reicht von der Antike über die Frühe Neuzeit bis in die unmittelbare Gegenwart. Die Wissensbruchstücke und Gedächtnisinhalte werden insgesamt unsystematisch, im Detail jedoch mit der Präzision des ästhetischen Gehirn-Anatomen arrangiert. Andreas Urs Sommer sieht in Enzensbergers Schriften eine skeptische »Nüchternheit« am Werk, die das aufklärerische Ideal des französischen philosophe auch in deutscher Sprache gegen ein idealisierendes und überhöhendes Selbstverständnis des Künstlers als »Intellektueller« oder »Kulturschaffender« durchzusetzen versuche: »Und diese Nüchternheit ist ein tragendes Motiv in Enzensbergers Arbeit am Ideal des philosophe. Einen existentialistischen Enzensberger würde heute kein Mensch mehr lesen, den listig-nüchternen Enzensberger lesen wir hingegen sehr wohl.« (Sommer 2010, 87)

Wirklich nüchtern ist Album jedoch nicht. Im Gegenteil dokumentiert gerade die farbige Gestaltung der Texte mit unterschiedlichen Schrifttypen, Fettdruck und stark kontrastierenden Proportionen den Versuch, die obligatorische Nüchternheit philosophischer Reflexionen aus den Angeln zu heben und stattdessen die affektiven Grundlagen und Verbindungen von Gedankengängen in den Vordergrund zu stellen. Dies unterstreicht den konfessionellen Charakter des Buches, welches eben nicht nur Bewusstseinsinhalte vermitteln möchte, sondern auch die einzigartige Erfahrungsqualität dieser Inhalte transportiert. Aus Album kann man somit nicht nur erfahren, was Enzensberger denkt, sondern – und das ist die besondere Leistung dieses Buches – man kann das Experiment unternehmen, wie Enzensberger zu denken.

Literatur

— Barbey, Rainer: Unheimliche Fortschritte. Natur, Technik und Mechanisierung im Werk von Hans Magnus Enzensberger, Göttingen 2007.

— Barthes, Roland: »Afrikanische Grammatik«, in: Kursbuch 2 (1965), S. 103–109.

— [ohne Verfasserangabe] »Bloom im Bild«, in: Der Spiegel 27 (1963), S. 68, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-45144085.html (aufgerufen: 16.4.2013).

— Enzensberger, Hans Magnus: »Bewußtseins-Industrie«, in: ders.: Einzelheiten I, Frankfurt am Main 1962, S. 7–15.

— Enzensberger, Hans Magnus: »Schwarz-Weiß-Zeichnung«, in: ders.: Gedichte 19551970, Frankfurt am Main 1972, S. 124.

— Enzensberger, Hans Magnus: »Vom Blätterteig der Zeit. Eine Meditation über den Anachronismus«, in: ders.: ZICKZACK. Aufsätze, Frankfurt am Main 1997, S. 9–30.

— Enzensberger, Hans Magnus: Einladung zu einem Poesie-Automaten, Frankfurt am Main 2000.

— Enzensberger, Hans Magnus: Album, Frankfurt am Main 2011.

— Enzensberger, Hans Magnus: »Normale Wunder«, in: ders.: Enzensbergers Panoptikum. Zwanzig Zehn-Minuten-Essays, Frankfurt am Main 22012, S. 69–73.

— Krass, Stephan: WortSpielZeug. Mit einem Waschzettel zu einer Ausstellung von Hans Magnus Enzensberger (= Marbacher Magazin 117), Marbach am Neckar 2006.

— Reichmann, Wolfgang: »Bocksprünge der Geschichte. Zu Hans Magnus Enzensbergers ›Blätterteig der Zeit‹ und Alexander Kluges ›Chronik ohne Chronologie‹«, in: Sunke Janssen und Sylvia Nürnberg (Hg.): Raum & Zeit, Duisburg 2010, S. 126–144.

— Roli, Maria Luisa: »Das Ineinandergreifen von Wissenschaft und Poesie: Ein literarisches Experiment Hans Magnus Enzensbergers«, in: Raul Calzoni und Massimo Salgaro (Hg.): »Ein in der Phantasie durchgeführtes Experiment«. Literatur und Wissenschaft nach Neunzehnhundert, Göttingen 2010, S. 297–308.

— Schlösser, Christian: Hans Magnus Enzensberger, Paderborn 2009.

— Sommer, Andreas Urs: »Skepsis und Zustimmungsverweigerung. Hans Magnus Enzensberger und die Philosophie«, in: Dirk von Petersdorff (Hg.): Hans Magnus Enzensberger und die Ideengeschichte der Bundesrepublik. Mit einem Essay von Lars Gustafsson, Heidelberg 2010, S. 81–90.

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Sandro Zanetti (Hg.): Improvisation und Invention

Wenn eine Kultur etwas als Erfindung akzeptiert, dann hat dieses Etwas bereits den Status einer Tatsache erhalten, die vorhanden ist und auf ihren Nutzen oder auf ihre Funktion hin befragt werden kann. Was aber geschieht davor? Wie gewinnt das Erfundene Wirklichkeit? Wie in der Kunst, wie im Theater, wie in der Literatur und Musik, wie in der Wissenschaft? Und mit welchen Folgen? Die Beiträge in diesem Band beschäftigen sich alle mit einem Moment oder einem bestimmten Modell der Invention. Ausgehend von den jeweils involvierten Medien wird der Versuch unternommen, diese Momente und Modelle zu rekonstruieren. Um etwas über die entsprechenden Inventionen in Erfahrung bringen zu können, werden diese als Ergebnisse oder Effekte von Improvisationsprozessen begriffen: Improvisationen in dem Sinne, dass von einem grundsätzlich offenen Zukunftsspielraum ausgegangen wird, gleichzeitig aber auch davon, dass es ein Umgebungs- und Verfahrenswissen gibt, das im Einzelfall beschrieben werden kann.

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