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Okwui Enwezor: Intensive Nähe
Intensive Nähe
(S. 85 – 98)


Verstörung und die Politik der Sichtbarkeit


Okwui Enwezor

Intensive Nähe
Über das Schwinden der Distanz

Übersetzt von Rober Schlicht

PDF, 14 Seiten

EN

 Reisezeiten: Übergriffe der Ethnografie



In Tristes Tropiques, dem bahnbrechenden ethnografischen Reisebe­richt, der 1955 veröffentlicht und international gefeiert wurde, beginnt der große Anthropologe Claude Lévi-Strauss die Schilderung seiner legendären Forschungsreise in das Landesinnere von Brasilien in skeptischem Ton: »Ich verabscheue Reisen und Forschungsrei­sen­­de. Trotzdem stehe ich im Begriff, über meine Expeditionen zu berichten.« Trotz seines hybriden Formats – einer Kombination aus Memoiren, Reiseliteratur und Ethnografie – entwickelte sich Tristes Tropiques zu einem Bestseller. Das Buch fand eine Leser_innenschaft, die weit über ein Nischenpublikum von Expert_innen hinausging, und etablierte seinen Autor umgehend als bedeutende Figur auf den Feldern der Anthropologie und des Strukturalismus. Das Werk er-schien an einem historischen Wendepunkt, nicht nur im Hinblick auf die Veränderungen der Anthropologie durch den Strukturalismus – auf Grundlage einer Analyse der Gesellschaft anhand der Strukturen von Sprache und Kultur –, sondern auch weil es in einer Periode der Nachkriegszeit vorgestellt wurde, als die Ethnografie sich durch die großen Bewegungen der Entkolonialisierung wandelte. Die in der Disziplin stattfindenden Veränderungen erforderten nicht nur ein Umdenken in Bezug darauf, wie anthropologische Methoden (Feldforschung als teilnehmende Beobachtung) und Diskurse (ethnogra­fisches Schreiben) das Verständnis kolonisierter Gesellschaften und ›entlegener‹ Kulturen prägen, sondern auch eine Neubewertung des zugrunde liegenden Systems der kolonialen Moderne, aus der sich die zentrale Entwicklungsdynamik in der Interaktion zwischen europäischen und nichteuropäischen Kulturen ergab. 


Auch wenn er keine Inkarnation der dramatischen Neuordnung des modernen Systems war, enthielt der Titel des Buches, Traurige Tropen, in seiner Narration doch ein gewisses Maß an Elegischem. Sein wesentlicher Punkt war, dass die Übergriffe der Moderne von einer Vielzahl fragiler Gesellschaften, die nur über begrenzte Mittel verfügten, um ihren dunkleren Motiven zu widerstehen, teuer bezahlt werden mussten. Ein weiterer aufschlussreicher Aspekt des Buchtitels ist die Tatsache, dass die Erzählung allein von der Traurigkeit der Tropen ausgeht und Europa von solchem Unbehagen ausnimmt. Die Subtilität dieses Unterschieds versinnbildlicht die prinzipielle Dicho­tomie, von der die ethnografische Zunft seit über einem Jahrhundert heimgesucht worden war, nämlich dass die anthropologische For-schung auf einem räumlichen Modell aufbaut, das die Distanzen zwischen nah und fern ausmisst. Tristes Tropiques legt diese Dicho­tomie offen. In flüssigem literarischem Stil verfasst, ist das Buch voller Geschichten, die mit ebenso persönlichen wie professionellen, bewussten wie unbewussten Unterscheidungen arbeiten. Der Bericht umfasst verschiedene Formen der Selbstethnografie vermittels Erzählungen über Lévi-Strauss’ Familie, das französische Ausbildungssystem und dessen soziale Hierarchien, linke Politik in Paris, eine kurze Abschweifung zum Surrealismus, zur Kunst und so weiter. Im Mittelpunkt stehen jedoch...

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Okwui Enwezor

leitet seit 2011 als Direktor das Haus der Kunst in München. Zuvor arbeitete er als Forschungskurator sowohl am International Center of Photography in New York als auch am Art Institute of Chicago. Enwezor war Dekan und Senior Vizepräsident am San Francisco Art Institute. Er lehrte unter anderem an der University of Pittsburgh, der Columbia University, New York und der Universität von Umeå, Schweden. Neben Ausstellungen am PS1, MoMA, New York, dem Haus der Kulturen der Welt, Berlin, dem Guggenheim Museum und der Tate Modern kuratierte er als künstlerischer Leiter zahlreiche internationale Großausstellungen, darunter La Triennale in Paris (2012) und die 7. Gwangju Biennale in Südkorea (2007/2008). 2002 war er künstlerischer Leiter der documenta 11 in Kassel, leitete 1996/97 die zweite Johannesburg Biennale in Südafrika und ist künstlerischer Leiter der 56. Biennale in Venedig 2015. Seit 1993 ist Enwezor Mitherausgeber und Begründer des Nka: Journal of Contemporary African Art.

Weitere Texte von Okwui Enwezor bei DIAPHANES
Kerstin Stakemeier (Hg.), Susanne Witzgall (Hg.): Fragile Identitäten

Wie ist es um die Subjektformen der Gegenwart und wie ist es um deren Selbst-Verständnis bestellt? In künstlerischen Arbeiten und wissenschaftlichen Theorien treten immer häufiger ›fragile Identitäten‹ in den Vordergrund. Sie erscheinen als Kritiken am Begriff der Identität selbst, verweisen aber vor allem auf den prekären Zustand von Subjektformen im fortgeschrittenen Kapitalismus und in aktuellen politischen Umbruchsituationen. Anknüpfend hieran lotet der Band Chancen und Gefährdungen des fragilen Selbst aus und fragt nach der Dringlichkeit eines neuen Konzepts von Subjektivität. Die Publikation ist Ergebnis des zweiten Jahresprogramms des cx centrum für interdisziplinäre studien an der Akademie der Bildenden Künste München.

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