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Andreas Bernard

Volkszählung

PDF, 8 Seiten


Zwei Dokumente, zwei Plattformen der Erfassung, die einen Eindruck davon vermitteln, wie fremd die achtziger Jahre inzwischen geworden sind, wie fundamental sich das Bild vom Menschen innerhalb von dreißig Jahren wandeln kann: Auf der einen Seite der umkämpfte und massenweise boykottierte Volkszählungsbogen aus dem Jahr 1987 (Abb. 1) – gut zwei Dutzend, von heute aus gesehen diskrete, beinahe unschuldig anmutende Fragen zur Lebens- und Wohnsituation jedes in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Menschen, die damals Hunderttausende von Demonstranten auf die Straße gebracht haben. Auf der anderen Seite das Anmelde-›Profil‹ des Nutzers in einem Sozialen Netzwerk wie Facebook 2016, das wesentlich genauere und persönlichere Informationen erfordert, von den Mitgliedern aber freiwillig und im Gefühl der Selbstermächtigung ausgefüllt wird. Was ist in diesen drei Jahrzehnten geschehen? Welche politische und mentale Disposition hat in den achtziger Jahren dafür gesorgt, dass die Angst vor der ›totalen Erfassung‹ und dem ›gläsernen Menschen‹ zum umfassenden Widerstand gegen die Volkszählung führte? Und welchen Umbrüchen ist es zu verdanken, dass sich innerhalb einer Generation der grundsätzliche Umgang mit Registrationsweisen des eigenen Selbst derart tiefgreifend verändert hat? 


›Erfassung‹ wird heute nicht mehr in erster Linie als passive, viktimisierende Prozedur wahrgenommen, als Bemächtigungstechnik einer äußeren Machtinstanz wie dem ›Staat‹ oder der ›Polizei‹, sondern ist zu einem performativen Akt geworden. Gleichzeitig hat die Metapher des ›Gläsernen‹ eine Bedeutungsumwandlung erfahren; transparente Einblicke weisen mittlerweile nicht mehr auf Bedrohliches, Bekämpfenswertes, sondern sind Ausdruck vorbildlicher ethischer oder ökologischer Standards. Ein deutscher Biomilch-Produzent trägt etwa den Firmennamen Gläserne Molkerei. 


Die Geschichte der Volkszählung im Deutschland der achtziger Jahre ist ein Drama in zwei Akten. Als sie 1987 unter massiven Protesten durchgeführt wird, ist dies bereits der zweite Versuch; ursprünglich sollte die Zählung – die erste nach 1970 und die erste ›Totalerhebung‹ in der BRD (in den Jahrzehnten davor wurden nur Teile der Bevölkerung befragt) – bereits im Jahr 1983 stattfinden. Doch das vom Bundestag einstimmig verabschiedete »Volkszählungsgesetz« führt bereits Monate vor dem geplanten Abgabetermin der Bögen am 27. April 1983 zu beträchtlicher Missstimmung in der Bevölkerung; die Volkszählung, so die ­verwunderte Diagnose des Präsidenten des Statistischen Bundesamts, »ist in einem Maße zum Gegenstand der öffentlichen Diskussion geworden, wie es von keinem der Beteiligten vorausgesehen worden ist«.1 Anfang März 1983 reichen zwei Rechtsanwältinnen in Karlsruhe Verfassungsbeschwerde ein, die bevorstehende Volkszählung verletze ihre Grundrechte auf ›freie Entfaltung der Persönlichkeit‹ und ›freie Meinungsäußerung‹.2 Am 13. April, zwei Wochen vor der angesetzten Frist (die Zähler beginnen in manchen Gemeinden schon mit der Verteilung...

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Andreas Bernard

ist Professor für Kulturwissenschaften am Centre for Digital Cultures der Leu­phana-Universität Lüneburg und Autor der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
Weitere Texte von Andreas Bernard bei DIAPHANES
Nils Güttler (Hg.), Margarete Pratschke (Hg.), ...: Nach Feierabend 2016

Ob Medien, Technik, Bilder, Körper oder Ökologie: Was die Geistes- und Kulturwissenschaften heute bewegt, gewinnt bereits in den frühen 1980er Jahren an Aktualität. In den Blick gerät ein Jahrzehnt, in dem sich Medien- und Technikrealitäten in den westlichen Gesellschaften spürbar wandelten und das Versprechen einer ›Wissensgesellschaft‹ in greifbare Nähe rückte. In die Karriere des »Wissens« um 1980 mischten sich historisch spezifische Erfahrungen und Zukunftsversprechen, politische Auseinandersetzungen und soziale Visionen – eine Konstellation, deren Gefüge sich inzwischen verschoben hat oder deren Bedeutung schlicht in Vergessenheit geriet.
Die aktuelle Ausgabe von »Nach Feierabend« widmet sich dieser Konstellation, aus der auch die neuere wissenshistorische Forschung hervorgegangen ist. Wie hängt das heutige Theorieangebot mit den Lebenswelten der achtziger Jahre zusammen? Wie viel bleibt von den visionären Entwürfen der damaligen Zeit übrig, wenn man sie an den historischen Problemhorizont zurückbindet? Und nicht zuletzt: Was blieb auf der Strecke?

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