Offen gestanden versuche ich, das Wort ›Praktiken‹ inzwischen möglichst selten zu verwenden. Denn bei den letzten Malen zerfiel es mir manchmal wie ein modriger Pilz im Mund. Wenn ich es von anderen höre, reagiere ich skeptisch: Kaum ein anderer Begriff kommt innerhalb der Wissenschaftsgeschichte und den angrenzenden Kulturwissenschaften nämlich mit einer so massiven Selbstevidenz daher. Meistens nicht allein, sondern von einem Attribut begleitet. Dann ist von ›diskursiven‹, ›epistemischen‹ oder ›kognitiven‹ Praktiken die Rede. Stets geht es darum, etwas, das mit Wissen, mit Denken oder Begriffen zu tun hat, in Wirklichkeit als Praxis zu erweisen. Soweit ich sehe, ist das seit den achtziger Jahren der Fall. Doch anders als damals werden die Voraussetzungen, die Ansprüche und Implikationen dieser Umdeklarierung heute kaum noch diskutiert. Eine diffuse Bedeutung, die immer mittransportiert wird, lautet: »Hier wird keine Ideengeschichte getrieben.« – »Und das ist auch gut so!«, könnte der oder die Betreffende sogleich hinzufügen, denn einer weiteren Begründung bedarf es nicht. Mit Roland Barthes gesprochen haben wir es mit einem Alltagsmythos der Wissenschaftsgeschichte zu tun. Wer ankündigt, ›Praktiken‹ erforschen zu wollen, weiß den common sense der Kolleginnen und Kollegen auf seiner Seite. Doch worauf stützt sich diese Übereinkunft eigentlich? Welche theoretischen Referenzen sind in sie eingeflossen? Oder ging sie in den achtziger Jahren nicht aus Theorie, sondern aus einer besseren Empirie hervor?
Für die Autoren, die die sogenannte ›praktische Wende‹ in der Wissenschaftsforschung und -geschichte eingeleitet haben, stellte die intime Kenntnis der Laboratorien in der Tat eine wichtige Argumentationsgrundlage dar. Hans-Jörg Rheinberger war ein ausgebildeter Molekularbiologe. Andrew Pickering, der sich der Soziologie von Teilchenbeschleunigern und Nebelkammern widmete, hatte in science studies und Physik promoviert. Auch Bruno Latours 1979 erschienene Ethnologie des Salk Institute Laboratory Life schöpfte ihre Legitimation aus der in geduldiger Feldforschung gewonnenen Vertrautheit mit ihrem Gegenstand.1 Gleichzeitig wurden für die neue praxeologische Perspektive aber auch ältere Gewährsleute wiederentdeckt. Zu den Vorläufern, die hierzulande kaum bekannt oder weitgehend vergessen waren, gehörten Ludwik Fleck und Gaston Bachelard, die in den späten siebziger Jahren ins Pantheon der Suhrkamp-Kultur aufgenommen wurden. Schon im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts hatten sie zu erkennen gemeint, dass in den modernen Experimentalwissenschaften das Hantieren mit Apparaten, das Messen und Aufschreiben eine kaum überschätzbare Rolle spielte – oder besser: dass es durch die Existenz dieser Wissenschaften obsolet geworden war, über die Möglichkeitsbedingungen von Erkenntnis im Rahmen einer allgemeinen Erkenntnistheorie zu diskutieren, die das, was Bachelard als »Phänomenotechnik« bezeichnete, nicht in ihre Überlegungen einbezog.2
Doch möchte ich...