Nutzerkonto

Joseph Vogl: Der Amokläufer
Der Amokläufer
(S. 13 – 18)

»DIE SCHULD GEHÖRT MIR!«

Joseph Vogl

Der Amokläufer





Bevor er Geschichte macht, schreibt er manchmal Hefte und Internetforen voll. 
Warum der Amokläufer Text produziert und bei klarem Verstand wahnsinnig ist.


Wer heute die Homepage der Columbine Highschool in Littleton/Colorado aufruft – jener Schule also, an der am 20. April 1999 die knapp 18-jährigen Schüler Eric Harris und Dylan Klebold 12 Schüler und einen Lehrer getötet und sich selbst dann erschossen hatten – wer also heute diese Homepage aufruft, der findet nichts als einen dezenten Hinweis auf dieses Datum und ein leeres Passepartout für diesen Fall. Den dezenten Hinweis gibt der jährlich wiederkehrende Community Day, der, wie es heißt, »der Gemeinschaft einiges der Liebe und der Unterstützung zurückgeben« soll, »die wir nach dem 20. April 1999 erfahren haben«. Das Passepartout dazu liefert das Frontbild der Homepage selbst. Es zeigt den leeren lichtdurchfluteten Schulflur, der mit dem Motto der Schule beschrieben ist: »Through these halls walk the finest kids in America. The students of Columbine High School.«


Was ist die Referenz des Gedenktags? Worauf verweist das leere Passepartout? Was ist der Schauplatz eines Geschehens, das man Amok oder Amoklauf genannt hat und das sich in einer Serie wiederfindet, die vom Universitätscampus Austin/Texas im Jahr 1966 bis zur Virginia Tech University im April 2007 reicht? Was ist das Material dieses Verbrechens? Was sieht man, wenn man nicht unbedingt erklären und interpretieren will? Dazu möchte ich vier Thesen formulieren.


Erstens findet man im Fall von Littleton ein Vexierbild von Taten und Texten vor. Das betrifft nicht nur die ca. 10.000 Seiten von Dokumenten, Ermittlungsakten und Gutachten, die sich nach dem Verbrechen angehäuft haben, sondern auch die 946 Seiten Aufzeichnungen, die von den jugendlichen Tätern selbst stammen: Tagebücher, Schulaufsätze, Kurzgeschichten, Kassenbons, Lage- und Einsatzpläne, Zeichnungen und Skizzen, theoretische und persönliche Notizen, dazu die Texte auf den verschiedenen privaten Websites der beiden Täter. Das Verbrechen liegt in einer Einheit von Taten und Texten vor. Das Verxierbild ergibt sich aus der Unklarheit, wie beide Hälften aufeinander verweisen. Denn einerseits erscheint die Tat als notwendige Konsequenz und Vollendung des Geschriebenen. Seit 1998 spitzen sich die diversen Gewaltszenarien, die Pläne und die logistischen Notizen auf den Schauplatz der Schule und auf das Datum der Tat zu. Andererseits hat man nachträglich die Texte zur Erklärung der Taten herangezogen und darin die entsprechenden Anomalien erkannt. Im Kurs für creative writing ist etwa eine Erzählung entstanden, die ein langes Gemetzel schildert und mit einem triumphierenden Täter endet: »Er hatte seine Bestimmung gefunden, er strahlte Kraft,...

  • Gewalt
  • Wahnsinn
  • Amok
  • Schreiben
  • Mord

Meine Sprache
Deutsch

Aktuell ausgewählte Inhalte
Deutsch, Englisch, Französisch

Joseph Vogl

Joseph Vogl

ist Professor für Neuere deutsche Literatur, Literatur- und Kulturwissenschaft/Medien an der Humboldt-Universität zu Berlin und Permanent Visiting Professor an der Princeton University, USA. Mit »Das Gespenst des Kapitals« (2011) hat Joseph Vogl  »einen heimlichen Bestseller geschrieben, der weit über die Feuilletons Aufsehen erregte« (DER SPIEGEL).

Weitere Texte von Joseph Vogl bei DIAPHANES
Lars Friedrich (Hg.), Karin Harrasser (Hg.), ...: Figuren der Gewalt

In Figuren nimmt etwas Gestalt an. Dieses »Etwas« mag die wissenschaftliche Neugierde sein, der Nachhall vergangener Verwüstungen, das verwirrte Murmeln aktueller Konflikte, die Freude am Fabulieren. Der Amokläufer, der Archivar, die Herausgeberin, die Null, der Testamentsvollstrecker, der Zauberkünstler: Sie und andere geben das Ensemble einer Revue von Miniaturen, die ausstellen, was man unter »Codierungen von Gewalt im medialen Wandel« verstehen könnte. Denn zwar ist Gewalt manchmal sichtbar und unmittelbar, viel häufiger aber ist sie verborgen und indirekt. Sie exponiert sich in den Erzählungen derer, die Teil ihrer Codierung sind: Gewalt-Fantasien. 

Mit Beiträgen von Jörn Ahrens, Janis Augsburger, Hendrik Blumentrath, Hartmut Böhme, Thomas Brandstetter, Lars Denicke, Elke Dubbels, Lars Friedrich, Karin Harrasser, Claudia Hein, Sabine Kalff, Gernot Kamecke, Harun Maye, Silvia Mazzini, Arno Meteling, Daniel Tyradellis, Joseph Vogl, Elisabeth Wagner, Sven Werkmeister, Michaela Wünsch, Burkhardt Wolf und Barbara Wurm sowie mit Zeichnungen von Nikolaus Gansterer.

Inhalt