Nutzerkonto

Wildgewordener Frühkapitalismus 
in Ostindien

Alexander Kluge, Joseph Vogl

Kleinholland auf den Pfefferinseln

Aus: Soll und Haben. Fernsehgespräche, S. 187 – 208

Vogl: Das Besondere der Niederlande bestand nicht zuletzt in einer eher ungewöhnlichen Staatsform. Die Vereinigten Niederlande, die sich von Spanien losgelöst hatten, verfügten auf der einen Seite über eine geringe staatliche Infrastruktur und waren bestenfalls ein loser Verbund von Städten und Provinzen. Auf der anderen Seite zeichneten sie sich aber durch eine sehr starke, überkodierte ökonomische Struktur aus. Diese interne Spannung des Landes, das zu den durchkapitalisiertesten Staaten Europas gehörte, aber nur über geringe staatliche, also institutionelle, souveräne Strukturen verfügte, machte das Besondere der Niederlande aus und machte sie auch politisch zu Verwandten des Meeres. Es war ein Land, das zwischen Erde und Wasser, zwischen gekerbtem und glattem Raum existierte, in dem der feste Boden, das Gesetz, der Acker, um das flüssige Element ergänzt wurde, durch die Frage, wie sich das Meer aneignen, wie sich das Meer befahren, wie sich das Meer durchfurchen lässt.


Kluge: Was heißt »überkodierte Ökonomie«?


Vogl: Überkodierte Ökonomie bedeutet zunächst überhitzter Kapitalismus, wildgewordener, expandierender Frühkapitalismus.


Kluge: Die Niederlande haben ihn erfunden gewissermaßen, zusammen mit den Italienern.


Vogl: Vielleicht nicht unbedingt erfunden, aber sie haben natürlich die Errungenschaften der Italiener, wie beispielsweise die Buchführung, schnell importiert. Interessant ist etwa, dass einer der Berater von Wilhelm von Oranien, Simon Stevin, zu den Ersten gehörte, die vorschlugen, das Prinzip der doppelten Buchführung, welches aus den oberitalienischen Städten des späten Mittelalters kam, zu importieren und auf den Staat selbst anzuwenden. Das heißt also, dass der Staatenverbund, der lose Verbund von öffentlichen Institutionen in den Niederlanden sehr früh die Idee aufbrachte, den Staat selbst zu ökonomisieren, aus dem Staat selbst ein ökonomisches Institut, ein Unternehmen, eine Kapitalgesellschaft zu machen. Und das ist, glaube ich, das spezifische Merkmal der Niederlande, das sie von allen anderen europäischen Staaten abgesetzt hat.


Kluge: Auch die Äcker werden geordnet, buchhalterisch nach Tulpensorten, und es gibt eine Tulpenbörse, einen Boom.


Vogl: Es gibt einen Tulpenboom und beispielsweise auch eine Tulpenwährung. Was in den Niederlanden geschah, ist ein gutes Indiz dafür, dass im Grunde alles kapitalisierbar ist, was sich verknappen lässt. Jedes knappe Gut ist ökonomischer Spieleinsatz, und dazu kommt, dass eine der größten damaligen Banken überhaupt die Wechselbank von Amsterdam war. Im damaligen Finanzgeflecht Europas gab es erst die Bank von Amsterdam und später die Bank von England, das waren zwei der zentralen Finanzinstitutionen, Zentralbanken seit dem 17. Jahrhundert.


Kluge: Und in diesem Geiste wird jetzt ein fernes Stück Welt, diese Inseln in Südostasien, Java, aber auch das ganze andere Archipel in Besitz genommen – soweit es nicht bereits von den Portugiesen eingenommen wurde.


Vogl: Es handelt sich um eine relativ komplizierte Konstellation, denn die Niederländer sind nicht ganz ohne Not nach dem sogenannten Ostindien gesegelt. Sie sind nicht zuletzt deshalb ausgefahren, weil ihnen nach dem Abfall von der spanischen Hegemonie Spanien, das sich Portugal einverleibt hatte, den Verkehr mit Lissabon und allen iberischen Häfen verwehrte. Aus diesem Grund waren die Holländer unterwegs, um eigene Routen zu den Gewürz- und Pfefferinseln zu suchen.


Kluge: Das heißt, sie waren zum Fernhandel gezwungen.


Vogl: Genau. Wie häufig – sie wurden sozusagen von Europa abgesprengt und haben diesen Weg über das Kap der guten Hoffnung, über Afrika, über den Äquator und die Westwindzone bis hin nach Australien genommen, um dann schließlich auf den ostindischen Inseln Sumatra, Java, den Molukken etc. zu landen.


Kluge: … sich festzusetzen. Und dort bilden sie Kolonien. Nicht so sehr in dem Sinne, dass sie Unterwerfungen vornehmen, sondern sie siedeln: Sie errichten Kleinholland.


Vogl. Sie errichteten kleine Siedlungen, die aber einen interessanten Charakter hatten. Zunächst sind diese Siedlungen durchaus von Holland aus geplant, und zwar wieder in einer seltsamen Vermischung von politischen, ökonomischen und auch institutionellen Interessen. Es wurde nämlich die Vereinigte Ostindiengesellschaft gegründet, die Ostindienkompanie, das ist eine Art Aktiengesellschaft …


Kluge: … eine Aktiengesellschaft für wohlhabende bürgerliche Aristokraten. Es konnte nicht jeder beitreten.


Vogl: Ja, aber die Ostindienkompanie war trotzdem ein sehr hybrides Gebilde. Sie war auf der einen Seite eine Frühform von Aktien­gesellschaften. Die verschiedenen niederländischen Städte und Provinzen haben sich mit Anteilen eingekauft und Dividenden aus dieser Gesellschaft bezogen. Auf der anderen Seite aber war diese Aktiengesellschaft durch und durch militärisch organisiert. Es war gleichzeitig ein in Europa aufgesammeltes Söldnerheer, das mit den Schiffen der Kompanie in Ostindien landete. Drittens aber – und das ist ein ganz entscheidender Aspekt – hatte die Ostindienkompanie Merkmale eines Staats im Staate, das heißt also die Fähigkeit, souverän Gesetze zu erlassen, Gerichtsbarkeit zu schaffen und so fort. Es war ein hybrides Gemisch aus Staat, Söldnerheer und Aktiengesellschaft, und dieser Inbegriff europäischer Organisations­einheiten – Verwaltung, Staat, Militär, Kapital – dieser Inbegriff unterschiedlicher Verwaltungs- oder Organisationsideen hat sich nun auf den Weg nach Ostindien gemacht und dort gesiedelt.


Kluge: Und siedeln heißt, dass eine Buchführung und eine Unterscheidung zwischen Wert und Nichtwert eingeführt wurde. An den Rändern wurden Straftaten bestraft, es war also eine Gerichtsbarkeit vorhanden, aber es handelte sich um eine abwehrende Gerichtsbarkeit.


Vogl: Es ist eine Gerichtsbarkeit, die sich in einem Punkt vom europäischen, das heißt vom Recht der europäischen Staaten unterschieden hat. Sie war nämlich diktiert vom Kriegs- oder vom Seerecht. Dort, wo die Holländer gesiedelt haben, herrschte ein latenter, dauernder Krieg. Die Ostindiengesellschaft, ihre Agenten und Mitglieder, Kaufleute, große und kleine, die Kapitäne und Seeleute, die Söldner unterstanden alle dem Kriegsrecht und nicht wie in Europa dem normalen Strafrecht.


Kluge: Zu Hause wird der Dreißigjährige Krieg also irgendwann beendet. Es entsteht ein Innenrecht, eine Verstaatlichung der Gewalt, ein Gewaltmonopol – aber das gilt nicht in Übersee.


Vogl: Genau, es gibt also eine mehrfache Ausstülpung, Auslagerung oder Filialbildung Europas. Aber für die Kommunikation zwischen dem Zentrum, dem alten Europa, und der Peripherie ist Folgendes interessant: Während sich in Europa Territorial- und Nationalstaaten konsolidierten, während man mit dem Westfälischen Frieden ein Gleichgewicht der Kräfte hergestellt hat, das in verschiedenen Vertragsschlüssen bis hin zum Frieden von Utrecht fortgesetzt und ausgebaut wurde, exportierte Europa etwa mit der Ostindiengesellschaft oder den englischen Kolonialisierungen einen permanenten Krieg. Man exportierte im Grunde einen Naturzustand, den Europa innerhalb seiner eigenen Grenzen abgeschafft hatte. 


Kluge: Ist der Ausdruck Kolonie eigentlich richtig?


Vogl: Kolonie stimmt nicht ganz. Es gibt einen sehr berühmten Satz von John Locke der sagt: »Am Anfang war alles Amerika«. Das heißt also, der Weltanfang liegt in all diesen Gebieten, die erstens nicht christlich, zweitens nicht von Europäern bereist und drittens nicht in ein Staatengefüge Europas eingebunden waren. Und was die Holländer nun betreiben, ist nicht eine Form der Kolonialisierung im Sinne erstens einer Missionierung und zweitens einer Errichtung staatlicher Strukturen. Die Holländer waren vor allem daran interessiert (und das macht Orte wie Batavia so besonders), Handelsniederlassungen zu gründen, die zunächst einmal nichts anderes darstellten als Stützpunkte für militärische Eroberungen und Zentren für den Umschlag von Waren.


Kluge: Lagerhäuser, also was man »oppidum« nannte unter den Kelten. Die Römer sind verwundert, in Gallien gibt es keine Städte, sondern nur bewaffnete Scheunen, in die die Bevölkerung im Notfall flüchtet, aber eigentlich sind diese Siedlungen da für das Horten von Waren. Das ist offenkundig von den Holländern nach Übersee verschifft worden.


Vogl: Und die Holländer hatten überhaupt kein Interesse, Gebiete wie etwa Java territorial zu erschließen. Es handelte sich vielmehr um punktuelle Siedlungen, die über den Seeweg miteinander verbunden waren …


Kluge: … an den Flussmündungen …


Vogl: … und die mehrfach ausgegrenzt waren. Also zunächst, wie etwa in Batavia, durch eine Festung. Dahinter folgte der Stadtring, dann der Urwald und danach war Schluss. Hinter dieser Grenze beginnt das Feindesland und somit auch der fortgesetzte, sich immer weiter fortzeugende Krieg. Das bedeutet: Es wurde kein Territorium, es wurde kein Staatsgebiet, es wurde keine kohärente Verwaltungseinheit geschaffen, sondern nur einzelne Filialen einer Handelsgesellschaft, in denen eben diese europäische Überkodierung, ein gewisses Recht, ein gewisser ökonomischer Verkehr, gewisse Verwaltungsstrukturen existierten. Aber jenseits davon war eigentlich – etwas unvorsichtig gesagt – Niemandsland. Über diese Punkte, die so etwas wie Schaltstellen, Synapsen, Relais eines riesigen Handelsverkehrs waren, haben die Holländer versucht, die ostindischen Inseln zu erschließen. Es war der erste Versuch, ein großes Territorium, von der Größe des alten Europas bis hin zum Ural, nicht über die Definition territorialer Einheiten, sondern über einzelne Kreuzungs- und Knotenpunkte zu erschließen. Man versuchte, ein Netzwerk herzustellen, und ein Schwerpunkt, ein zen­traler Knoten dieses Netzwerks, war Batavia auf Java.


Kluge: Batavia benannt nach den Batavern. Batavia ist der Name des gallischen Stammes, der von Cäsar besiegt wurde.


Vogl: Es war ein kleiner germanischer Stamm im Mündungsdelta des Rheins, glaube ich, der von Cäsar besiegt wurde und der dann in fortlaufender Geschichte den Holländern und schließlich den Niederländern bis hin zur batavischen Republik (von Napoleon geschaffen) den Namen gegeben hat. Der Name Batavia ist in das europäische Verkehrssystem auf eine ganz interessante Weise mit eingebunden. Auch er wird nämlich losgesprengt von Europa, taucht wieder auf in Java und kommt von dort in einer seltsamen semantischen Aufladung und Fama nach Europa zurück. Vielleicht muss man dazu sagen, dass eben dieses Batavia, das heute übrigens Jakarta heißt … 


Kluge: …  das ist der indonesische Name, ein eingeborener Name …


Vogl: … dass dieses Batavia sich an dem Ort einer alten Eingeborenen-Siedlung errichtet hat, einer Eingeborenen-Siedlung namens Jayakarta, Jacatra oder Jakarta.


Kluge: Was wird da nach Europa verschifft? Was macht den Reichtum aus? Denn es hat doch eine Aura von Reichtum … Gold wird doch nicht gefunden?


Vogl: Nein, nein. Zunächst einmal sind es im Wesentlichen Gewürze, dann kommen beispielsweise Edelhölzer dazu, aber im Wesentlichen ­– und das ist das ganz Entscheidende für Holland – ist es Gewürzhandel, sind es also Pfeffersäcke, die importiert werden. Die Ostindienkompanie hatte versucht, über dieses ganze Gebiet ein Monopol zu gewinnen, und hat dieses Monopol auch mit aller Gewalt sowohl gegen alle europäischen Konkurrenten als auch gegen alle eingeborenen Fürsten durchgesetzt. Über dieses Gewürzmonopol, das bis ins Ende des 18. Jahrhunderts seine Bedeutung hatte, ist der Name Batavias tatsächlich zum Inbegriff unermesslicher Reichtümer geworden. Was importiert wurde, war immer auch der Geruch von Reichtum, war immer der Geruch unerschöpflicher Finanzquellen, die von Batavia aus über Holland und Amsterdam Europa überschwemmt haben. Der Mythos dieses Reichtums ist bis in die Operette gelangt.


Kluge: »Sieben Jahre lebt’ ich in Batavia«, aus der Operette Der ­Vetter aus Dingsda von Künnecke.


Vogl: Dingsda, die Adresse Dingsda ist Batavia, und das ist eine sehr komische Form …


Kluge: Der Vetter aus Dingsda ist ein gedachter Vetter, den es gar nicht gibt, der, reich geworden, aus Batavia das Glück in das Deutschland von 1918 mitbringt.


Vogl: Es ist, glaube ich, noch ein bisschen komplizierter…


Kluge: Der deutsche Kaiser ist in die Niederlande entschwunden und jetzt kehrt aus Batavia, aus dieser Kolonie, irgendwie das Glück, die Rettung aus einer Inselwelt nach Deutschland ein, als Operette.


Vogl: Die Konstellation ist, glaube ich, noch ein bisschen interessanter, denn auf der einen Seite ist der Kaiser ja regelrecht geflohen in eine südostholländische Stadt und hat dort bis in den Zweiten Weltkrieg hinein gelebt. In der Nähe davon liegt der Spielort dieser Operette, auf einem kleinen Schloss. Die erste interessante Kon­stellation also: ein Austausch, der Kaiser wird exportiert, und zugleich wird über diesen kleinen niederländischen Ort, den Spielort der Operette Der Vetter aus Dingsda, Reichtum nach Deutschland importiert. Zweite interessante Konstellation: Die Operette ist 1921 erstmals aufgeführt worden, es herrscht bereits Inflation, aber es gibt demgegenüber den festen holländischen Gulden, der aus deutscher Per­spektive als der Inbegriff des Reichtums erschien. Es wird ein doppeltes Spiegelverhältnis hergestellt: der exportierte Kaiser und der importierte Reichtum, Inflation in Deutschland und stabile Währung in Holland. Dann kommt aber, und das ist ein weiterer Aspekt, ein Personal auf den Plan, das im Grunde so etwas darstellt wie alteuropäische Parasiten, es kommen also Tante und Onkel. Eine der ersten Arien geht über Tante und Onkel, und was sind das? Das sind Parasiten …


Kluge: … die mit ernährt werden wollen …


Vogl: … genau, es sind Parasiten im prägnanten Sinn: Es gibt ein Gut, das wirft Geld ab, und bevor die junge Erbin mündig wird, leben Onkel und Tante als Vormünder auf und von diesem Gut, eine alte Geschichte.


Kluge: Beleihen quasi das Leben dieses jungen Mädchens wie eine Hypothek: Die soll reich heiraten.


Vogl: Sie soll reich heiraten, und sie soll vor allem so heiraten, dass diese Leibrente, dass dieser Freitisch niemals aufhört, dass er lebenslänglich währt. Das ist eine Grundkonstellation. Und in dieser Konstellation, die als eine sehr komplizierte europäische politische und finanzpolitische Lage entworfen wird, taucht der Vetter aus Dingsda auf, taucht ein sagenhafter Vetter auf, der mit dem Dingsda …


Kluge: … mit etwas, das man gar nicht benennen kann. Diese Quelle von Reichtum gibt es weder in Tahiti, noch sonst irgendwo, aber man singt »Jetzt kommt er aus Batavia«.


Vogl: »Er kommt jetzt aus Batavia«, und Batavia figuriert als Sigle oder Chiffre für zwei Aspekte, auf der einen Seite für die unendlichen Reichtümer und auf der anderen Seite für ein Südsee-Paradies, wo sich »Kolibris« auf »Liebesparadies« reimen und »Kängurus« auf »Gnus«. Es ist also zu einem Schematismus aller möglichen europäischen Exotismen geworden.


Kluge: Fontane schreibt im Stechlin von einem märkischen See, der immer dann vibriert, ein Lebenszeichen gibt, wenn in Indonesien etwas Schlimmes passiert, ein Massaker oder ein Vulkanausbruch. Er spricht von einer Empathie des Lebendigen und der Wasser über den ganzen Planeten hinweg. Gibt es so etwas?


Vogl: Es gibt so etwas, und man könnte es als ein globales Nervensystem bezeichnen. Dieses globale Nervensystem existiert im Grunde bereits seit dem 17., 18. Jahrhundert und für dieses Nervensystem …


Kluge: … als Bewusstsein, als Text …


Vogl: …  eher als Fühlbarkeit: Wie lassen sich ferne Kontinente erfühlen, wie werden Gefühlsökonomien so organisiert, dass ein ­Ereignis in China Effekte in Europa (und zwar Effekte auch als Affekte) haben kann – das wird bereits zu dieser Zeit beschrieben. Es gibt Ökonomen des 18. Jahrhunderts, die schreiben, dass der Irrtum eines Kaisers oder eines Ministers in China ganz Europa in Unordnung bringen kann. Die Voraussetzung dafür ist eine entstehende Weltwirtschaft. Ein erster Globalisierungsschub hat eben mit dieser weltweiten ökonomischen Aggressivität Europas eingesetzt und zur Herstellung der Nervenbahnen zwischen Europa und Asien, Europa und Amerika geführt. Das ist es, womit wir es bei all diesen Kolonien zu tun haben. Diese Verbindung, also auch dieses Nervensystem, diese Fühlbarkeit ferner Kontinente von Europa aus, wird ökonomisch, technologisch fabriziert. Dabei spielt natürlich der Fortschritt der Schifffahrtstechnik eine entscheidende Rolle. Das improvisatorische Navigieren wird technisiert, einerseits durch den Kompass (schon seit der Renaissance) und andererseits durch die Perfektionierung der Uhr, im 18. Jahrhundert. Man konnte die europäische Zeit dann auf den Schiffen mitnehmen und ohne große Umstände Längengrade bestimmen.


Kluge: Auch Eifer, auch Fleiß in Zeit gemessen. Arbeit wird ja in Zeit gemessen …


Vogl: Genau. Diese technologischen Errungenschaften Europas, die ja auch psychotechnische sind, werden auf den Schiffen mittransportiert – bis hin zum Kreiselkompass nach 1900 etwa, einer Erfindung, die das Navigieren, das Einhalten der Route noch einmal erleichtert. Ich glaube, dass auch die neuzeitlichen europäischen Subjekte eine Art Kreiselkompass, Bordinstrumente zur Navigation in sich haben. Losgesprengt vom europäischen Kontinent wissen sie immer ihre eigene Adresse und die Rückadresse in Europa, dorthin sind sie geeicht und ›genordet‹. Das wäre die eine Sache. Eine technologische Veranstaltung, die das Nervensystem zwischen Europa und dem Weltrand herstellt. Ein zweiter Aspekt, der schon angesprochen wurde, ist natürlich die Buchführung. Die Buchführung ist nicht zuletzt deshalb von weltpolitischer Bedeutung, weil sie ermöglicht, von einem Blatt Papier aus, das heißt mit der Verwaltung von Konten, den Überträgen zwischen Soll und Haben, von einem Kontor aus, Schiffe, Niederlassungen, Siedlungen und Handlungsorganisationen in der Ferne zu regieren und zu dirigieren. Diese beiden Technologien – die Buchführung und die Navigation der Schiffe – einschließlich der ganzen Psychotechniken, die europäische Individuen mitbringen, machen Europa zum Zentrum eines Nervengeflechts, das noch in den äußersten Gliedmaßen seine eigene Fühlbarkeit testen kann.


Kluge: Da sitzt also eine Art Gnom, eine Art Weiser, eine Art R­umpelstilzchen. Dass der Mensch sich in seinem Kontor als ganz kleines Wesen eines riesigen Reiches bemächtigen könnte, das ist doch die Vorstellung …


Vogl: Ja, es hat etwas Homunkulusartiges, wie ein Homunkulus …


Kluge: Ein künstlicher Mensch, der moderne ökonomische Mensch ist ein Kunstmensch – 


Vogl: … der volatil ist, also flüchtig – wie der Homunkulus in G­oethes Faust, in eine Glasviole eingelassen, über allem schwebend …


Kluge: Da gibt es diese in Holland lebende Figur, den Gobseck von Balzac. Das ist ein Geizhals, der nur ein einziges Lebewesen liebt, und das ist seine Tochter. Ist das zum Beispiel ein solcher Kontormensch? Er ist ja offensichtlich reich, aber eben auch reich an Beziehungen – geizig und zugleich reich.


Vogl: Das ist schwer zu sagen. Zunächst einmal findet seit Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts (und das wäre eine erste Antwort darauf) eine atemberaubende Umwertung der alten christlichen Todsünden statt – des Geizes beispielsweise. Der Geiz wird plötzlich als eine ökonomisch durchaus interessante Anormalität erkannt …


Kluge: … eine brauchbare Anormalität …


Vogl: … ja, die sich mit anderen Lastern vertauschen kann. Das heißt also: Es gibt zwei Todsünden, Völlerei oder zum Beispiel Verschwendung auf der einen Seite und den Geiz auf der anderen Seite, die, wenn man sie zusammen bringt, miteinander kommunizieren. Die frühen Ökonomen sagen, dass es möglich ist, ein System der Leidenschaften zu konstruieren, in dem ganz verschiedene Todsünden, wenn man sie nur miteinander in Beziehung setzt, wenn man also kommunizierende Röhren herstellt, amortisieren und insgesamt sogar zum Gemeinwohl beitragen, also fruchtbar und verträglich sind.


Kluge: Das ist der Glaube von Immanuel Kant, der sagt, dass eine Republik von Teufeln, wenn sie nur eine Gesetzgebung hat, Wohlstand und Moral produzieren kann.


Vogl: Kant ist in dieser Hinsicht Realist. Er geht so weit zu sagen, dass wir keine Republik, keine Gesetze und keine Staaten für gute Menschen bauen können, bauen sollten. Gesetze, Staaten und Institutionen funktionieren vielmehr nur dann, wenn sie für eine Gesellschaft von Teufeln geplant sind. Das ist ein Gedanke, der die ganze Aufklärung durchzieht. Und das wäre auch der Fall des Geizes. Der Geizhals ist einer, der ökonomisch produktiv wird, wenn er sich ordentlich mit anderen Sündenregistern vermischt.


Geiz und »abstrakte Genusssucht« – 
Kern des bürgerlichen Charakters 
nach Marx


Kluge: Marx unterscheidet zwischen »Geiz« und »abstrakter Genusssucht«. Es geht also nicht um Geiz im Allgemeinen, sondern um die Fähigkeit, sich zu enthalten und zu sparen. Das andere, die abstrakte Genusssucht, bedeutet: Ich verbrauche das nicht alles, sondern meine großen Werte sind so fern wie das Himmelreich, sind so fern wie Batavia.


Vogl: Es geht vielleicht noch weiter. Im Grunde ist die abstrakte Genusssucht bei Marx eine kapitalistische Fortentwicklung des Geizes, also des alten Geizes. Denn sie fordert eine äußerste Artistik der Leidenschaft heraus, die darin besteht, etwas zu genießen, was sich nicht genießen lässt, nämlich Kapital und Geld. Etwas, das sich nicht riechen lässt, das sich nicht essen lässt und sich im Grunde nicht einmal richtig anfassen lässt, kann nun genossen werden: eben das Kapital. Riesige Geldmengen zu erzeugen, dabei die Kapitalbildung zu lieben, Geld-Leidenschaft zu entwickeln, eine Passion über die Grenzen aller handgreiflicher, fleischlicher Leidenschaften hinaus, das ist abstrakte Genusssucht.


Kluge: Wäre Unsterblichkeit dabei das eigentliche Glücksversprechen? Denn das wäre die hinausgeschobenste Form des Kapitals, bei der ich die Vorräte selber genießen kann.


Vogl: Genau, und das ist natürlich auch der Horizont, in dem Marx diese abstrakte Genusssucht analysiert. Marx bringt ja immer das Kapital als den Erben Gottes ins Spiel. Dort, wo Gott einst stand, taucht das Kapital auf, als echte Konkurrenz, und die abstrakte Genusssucht ist sozusagen ein manifestes Verlangen nach ewigem Leben. Es überschreitet den physischen Körper, es überschreitet die physischen Bedürfnisse, es überschreitet den sterblichen Leib, es gebiert eine Art Astralleib.


Kluge: Das Omnipotenzgefühl des Menschen, also die Idee, dass der Mensch alles vermag, ist ja sehr stark formuliert in der Französischen Revolution. Und die schickt jetzt Soldaten raus, die alles können, und so gelingt es in der batavischen Republik, eine im Eis eingefrorene holländische Flotte, die unbeweglich ist, durch Husaren und französische Grenadiere einzunehmen. Der einzige Fall, dass eine Landarmee eine Flotte besiegte. Wie verhält sich diese Omnipotenzstruktur zu dem holländischen Charakter, der Indonesien erobert, der Niederländisch-Indien, wie es ja heißt, besetzt?


Vogl: Das ist deswegen ein fast symbolisches oder auch allegorisches Datum, weil nämlich das, was die Stärke dieser Kolonial­politik ausmachte, nämlich eine Politik des Meeres und der Beweglichkeit, eine Politik ohne festen Halt, dort auf Grund gelaufen ist. Die eingefrorene Flotte verwandelt …


Kluge: … Holland in ein Land …


Vogl: …Holland in ein Land, sie verwandelt auch die Macht oder das Projektil, das Schiff als Waffe im Handelskrieg, in unbewegliche Masse, territorialisiert es. Es bringt Holland außerdem das künftige Schicksal vor Augen. Das Schicksal nämlich, dass diese Kolonien irgendwann nicht mehr Gegenstand der flüchtigen Organisation von Handelsbeziehungen sein werden, sondern Territorialstaaten, die Holland nicht mehr gehören. Und deshalb noch einmal zurück, zurück zu Batavia. Das Bemerkenswerte an Batavia ist ja nicht nur, dass es ein pulsierender Umschlagplatz ist, sondern dass dieses Batavia von Anbeginn etwas ist, das man in Europa so nicht kannte, nämlich die Erzeugung eines atemberaubenden Völkergemisches. Nach Batavia wurden Leute verschifft, die auf der einen Seite aus der Handelsaristokratie stammten. Auf der anderen Seite wurden Söldner verschifft, die als Parias Europas aus den Gefängnissen, aus den Zuchthäusern, aus den Armenhäusern, dort Dienst taten und sich sehr schnell mit Eingeborenen, mit Chinesen, mit Javanesen, aber auch mit Malayen, sogar mit Arabern vermischt haben. Und Batavia ist schon in den frühesten Zeugnissen ein Ort geworden, in dem die strenge Scheidung von Bevölkerungsgruppen, von Nationen aufgehoben ist …


Kluge: … kein Rassismus …


Vogl: … und im Grunde, abgesehen von dem kolonialen Rassismus, der in der Sklavenhalterei bestand, keinen ideologischen Rassismus befördert hat.


Kluge: Aber es gibt auch keine Sklaverei?


Vogl: Es gibt natürlich Sklaverei in Batavia.


Kluge: Eigentum von Menschen, aber keinen Export von Sklaven.


Vogl: Es gibt keinen Sklavenhandel, dieses Geschäft nach Amerika haben andere anderswo übernommen.


Kluge: Aber nicht von Indonesien aus.


Vogl: Nicht von Indonesien. Die Holländer haben keine Sklaven verschifft, aber sie haben natürlich bestehende Formen – und es gab Sklavenhaltung in den javanesischen Fürstentümern – übernommen und sich Konkubinen, Haushälterinnen und so weiter als Sklaven gehalten. Aber interessant ist eben, dass diese Grenzen nicht wirklich haltbar waren und Java und vor allem Batavia sehr schnell als Inbegriff eines glatten Bevölkerungsraumes erschien, wo sich alles mit allem vermengt, wenn man so will, ein neuzeitliches Babylon.


Kluge: In dem Moment, als Singapur von den Japanern erobert wird, fährt die niederländische Flotte als eine Art Nato-Flotte mit australischen, englischen und amerikanischen Schiffen verstärkt aus zum Zweikampf. Das geht vollkommen schief, alle holländischen Schiffe werden dabei versenkt, aber es ist eine stattliche Flotte, die unter einem Admiral aus den Niederlanden dort noch einmal ausfährt. Das ist ein historischer Moment, 1941/42.


Vogl: Ich glaube, es gibt, gerade was Holland und die Vereinigte Ostindienkompanie (die ja der Inbegriff Hollands in den Kolonial­gebieten im fernen Ostasien gewesen ist) betrifft, einen Aspekt dabei, der auf der einen Seite hochmodern ist, auf der anderen Seite aber gerade ab dem 18., spätestens im 19. Jahrhundert völlig altmodisch geworden ist und auch zur Niederlage Hollands geführt hat. Und das ist exakt diese Verbindung aus kapitalistischer Ökonomie, Staat und Söldnerheer. Was die Niederländer im 19. Jahrhundert tatsächlich verloren haben in ihren Gebieten in Ostindien, sind zwei Dinge. Sie haben erstens das versäumt, was die Engländer taten. Diese haben nämlich in ihren Kolonien staatliche Strukturen eingeführt, die englische Rechtsprechung in Indien, auf Ceylon, in Singapur etc. Die Engländer haben etwas getan, was man nation ­building nennen kann, und versucht, koloniale Strukturen als bundes­staatliche Strukturen gegenüber dem United Kingdom einzuführen. Das war eine Sache, die die Niederländer versäumt haben, und das zweite Versäumnis …


Kluge: Sie haben das wie ein Landgut verwaltet.


Vogl: Genau, wie man ein Landgut oder wie man eine Filiale verwaltet. Indem die Engländer im Unterschied zu den Holländern nicht nur ein Rechtssystem, das zugleich für die Eingeborenen gilt, sondern auch administrative Strukturen, Infrastrukturen, Verkehrswesen usw. aufgebaut haben, legten sie die Grundlage für die späteren Nationalstaaten – wie kompliziert das Gefüge dann auch immer geworden ist. Das ist der eine Punkt, und ein zweiter Punkt, den die Holländer in einer zunehmend liberal werdenden Wirtschaft im 18. und 19. Jahrhundert nicht begriffen haben, ist die neue Ideologie des Interesses. Das heißt, dass man Leute nicht mehr einfach zum Handel erpressen kann, dass man besser auf deren Interesse setzt, dass man Interessen souffliert, mit Adam Smith im Gepäck. Die Holländer haben den Ostindien-Handel immer noch in einer fast feudalen Weise betrieben. Sie haben im Grunde Güter konfisziert, den Handel erpresst und eine Art Dienstverpflichtung der Eingeborenen als Handel deklariert, aber es war eigentlich ein feudales Verhältnis, Raub und Abschöpfung von Gütern. Die Engländer haben begriffen, dass die Unterstellung eines wechselseitigen Interesses größere Gewinne, eine wesentlich höhere ökonomische Produktivität mit sich bringt, und man könnte das als eine Gabelung zwischen der alten holländischen und der neueren englischen Politik begreifen. Also in diesen beiden Punkten: in der Frage einer nationalstaatlichen Infrastruktur, die die Holländer nie interessiert hat, und zweitens mit einer neuen liberalen Ökonomie und der Ideologie des wechselseitigen Interesses, ist Holland, die Überseemacht Hollands überholt worden und zugrunde gegangen.


Kluge: Aber dass Heinrich von Kleist im Zerbrochenen Krug ein holländisches Verhältnis zur Darstellung bürgerlicher Verhältnisse und eines Rechtsstreits nimmt, weist darauf hin, dass die Holländer eine Ausformung des bürgerlichen Charakters in ziemlich reiner Kultur historisch verwirklicht haben, so dass es einen kontinentalen, einen französischen, einen batavischen, einen britischen und einen amerikanischen Bürger gibt – so viele Bürger, wie es große Exkursionen gibt.


Vogl: Die sich übrigens an verschiedenen Stellen wieder berühren … 


Kluge: … aber es gibt nicht den allgemeinen bürgerlichen Menschen …


Vogl: Nein, es gibt ein mehr oder weniger gestaltloses bürgerliches Subjekt, das die Fähigkeit hat, sich in unterschiedlichen kontingenten Situationen jeweils anzupassen, also die Lage, den Status quo operativ zu beherrschen.


Kluge: Aber ob er sich anpasst, ob er höflich ist, was er in Kolonien und zu Hause tun wird, das wird verschieden aussehen. 


Vogl: Das wird verschieden aussehen, und da ist wiederum die holländische Konstellation und nun auch die, die Kleist aufgerufen hat, ganz ergiebig und an einer kleinen Stelle in einem hohen Maße interessant. In Kleists Zerbrochenem Krug wird ein Drama um einen korrupten Richter vorgeführt. Dieser korrupte Richter will eine junge Frau zu ein paar Geneigtheiten erpressen, indem er androht, ihren Verlobten mit einer fingierten Konskription nach Batavien, also in die holländischen Kolonien zu verschicken. Es ist nun auffällig, dass diese holländischen Kolonien zu der Zeit, als Kleist das Stück geschrieben hat, offenbar auch zum Inbegriff des Schreckens geworden sind. Es werden Söldner dorthin verschickt, es werden Konskribierte, Dienstverpflichtete dorthin verschickt und die Hälfte davon kommt bereits …


Kluge: … durch Fieber oder Gegner um …


Vogl: … auf der Überfahrt um. Was hier sichtbar wird (und darauf will ich hinaus) ist wieder eine eigentümliche Resonanz oder Korrespondenz: ein korrupter Richter im europäischen Mutterland, im dörflichen Idyll, der sich mit den Außenbezirken, mit der Wildnis, der Rechtlosigkeit, dem endlosen Krieg in Batavien assoziiert. Ein Intimverhältnis, das darauf verweist, dass der Frieden, der Rechtsfrieden, die Zivilität oder ›Bürgerlichkeit‹ in Europa erkauft ist mit einem Bordell an Gewalt jenseits der Grenzen Europas, mit einem Naturzustand, einem Krieg aller gegen alle, einem Konkurrieren aller europäischen Konkurrenten gegeneinander, mit einem Gemetzel, das noch im Kleistschen Lustspiel nach Europa hineinreicht. 


Kluge: Und umso fürchterlicher ist, als wir Idylle zuhause haben wollen.


Gibt es einen Prototyp 
des holländischen Kolonialisators?


Kluge: Gibt es einen Prototyp, einen Mann, der diesen holländischen Charaktertyp des bürgerlichen Menschen, des entschiedenen Menschen spiegelt?


Vogl: Es gibt eben einen Typus, wenn man so will, realhistorisch, den ersten Gouverneur der Ostindienkompanie in Südostasien, Jan Pieterszoon Coen mit Namen, einen Typus, der das besondere Format des abendländischen Subjekts zu dieser Zeit verkörpert, einen Typus, der mit groben Unterscheidungen erfolgreich im Unübersichtlichen operiert, Zivilisation und Wildnis, Menschen und Barbaren. Ein gutes, effizientes Produkt europäischer Zuversicht, tatkräftig, zuverlässig und glaubensfest, Sympathisant klarer Verhältnisse, der etwa das alte Jacatra niederbrennt, um Batavia darauf zu bauen. Subjekte, die europäische Bildung, europäische Unterscheidungskunst auf ihren Flotten nach Südostasien etwa exportieren, Anfang des 17. Jahrhunderts. 


Kluge: Sie lernen …


Vogl: Sie lernen und haben gelernt, und dieses Wissen wird dazu genutzt, Europa von der Schattenseite aus neu zu entwerfen. Das geschieht jenseits der Freundschaftslinien, das geschieht in der Wildnis, im Kontakt mit Barbaren, und das geschieht mit Leit­sätzen, wie einer der Leitsätze von Coen selbst, die lauten: »Es gibt keinen Handel ohne Krieg und es gibt keinen Krieg ohne Handel.« Gepflegter Handel wird dort, im Krieg, noch besser gepflegt, das wird einmal der Reichtum, der Aufschwung, die Zukunft der Niederlande sein. 


Kluge: Wenn ich dem zuhöre und überlege – dieses klare Unterscheidungsvermögen, das das Weiße Haus zur Zeit hat, sowohl die jungen Berater wie der Präsident, klingt ja eigentlich im Ergebnis ähnlich.


Vogl: Ja. Über alle Verwandtschaften und Gattungsähnlichkeiten hinweg besteht Politik im Wesentlichen darin (und die Niederländer haben das neben anderen vorgemacht), Menschenklassen zu sortieren, Abstufungen auszumachen, die häufig auch geographische Abstufungen sind. Carl Schmitt hat einmal gesagt, Politik als Unterscheidungskunst verfolgt die Kaskaden zwischen S­taatsgebiet, Kolonie, Protektorat, Exterritorium, Wildnis und dann schließlich Meer. Abstufungen und Reservate, in denen unterschiedliche Menschenarten lokalisiert sind, mit unterschiedlichen Zugängen zur Macht und zum Recht. Und was die USA im Augenblick betreiben, ist ein ähnlich effizientes politisches Differenzierungsspiel. Es gibt den Amerikaner und es gibt den Europäer, es gibt den Mittel- und den Osteuropäer, den alten und den neuen Europäer, es gibt Verbündete und Nicht-Verbündete, unter den Nicht-Verbündeten bessere und schlechtere …


Kluge: Willige und Unwillige …


Vogl: … und so weiter. Und das heißt: Politik besteht darin, Nähe und Ferne zur Macht, Nähe und Ferne zum Recht mit der Variations­breite von Menschenformen zu kombinieren. Jede Politik, auch die gegenwärtige, ist politische Anthropologie, das heißt Menschenlehre, Lehre von der Menschenähnlichkeit einzelner Gattungs­exemplare, bis hin eben zu Barbaren oder Werwölfen, bis hin zu jenen, die uns an den Grenzen umlauern, umlagern, und gegen die jeder Krieg, jeder entfesselte Krieg gerechtfertigt ist.


Kluge: Was heißt »Freundschaftslinie«?


Vogl: Die Freundschaftslinie ist eine sehr interessante Erfindung des Völkerrechts, die aus der Verständigung europäischer Nationen hervorgegangen ist. Aus der langwierigen Verständigung darüber, wie man mit dem noch nicht entdeckten, noch nicht eroberten, noch nicht in Besitz genommenen Land umgehen soll. In verschiedenen Verträgen hat man versucht, Freundschaftslinien zu ziehen, das heißt einen Meridian zu markieren, der zu Anfang des 16. Jahrhunderts etwa über die Kanaren lief. Diesseits gilt Völkerrecht, gilt europäischer Frieden, gelten beispielsweise auch für Kriegszustände bestimmte Regelungen, jenseits davon ist das alles aber außer Kraft gesetzt. Freundschaftslinien dienten dazu, auf Kosten entfesselter Kriege in entfernten Weltgegenden gehegte Kriege und gepflegte Beziehungen innerhalb Europas zu führen. Es war eine rechtliche Grenze, die nicht nur Europa von der neuen Welt geschieden hat, sondern zugleich einen Zustand geordneter Rechtmäßigkeit von einer Landschaft des Unrechts oder, wenn man so will, des improvisierten Rechts der Eroberer. 


Kluge: So dass wir in den letzten vierhundert Jahren keine Form entwickelt haben, wie man einen Frieden universell, also über den ganzen Planeten, schaffen könnte. Sondern es ist immer so, dass der Frieden zuhause mit besonderer Brutalität in den ausgegrenzten Bereichen korrespondiert. Und das würde sich auch bei einer Supermacht USA ja nicht ändern.


Vogl: Man kann vielleicht sogar sagen, dass die Organisation europäischer Macht, die Organisation westlicher Macht, immer mit Zonen der Ausnahmen verbunden ist, Zonen der Verwilderung, Zonen der organisierten Rechtlosigkeit, und diese Zonen sind im Augenblick im Wuchern begriffen. Guantánamo auf Kuba ist eine Zone dieser Art, in der kein Recht gilt, kein Völkerrecht, kein amerikanisches Recht, kein Kriegsrecht, eine Zone definitiver Rechtlosigkeit, in der Individuen existieren, die Häftlinge in Guantánamo, die weder Bürger eines Staates noch Weltbürger noch Soldaten sind, sondern Subjekte, die alle möglichen Rechtsformeln nur als verweigerte kennen. Diese Zone der organisierten Rechtlosigkeit schreibt 


sich in das Innere der Organisationen westlicher Mächte ein, und die US-Amerikaner sind im Augenblick einer der großen Akteure dieses Rückimports von außerstaatlicher Rechtlosigkeit ins Innere der Staatlichkeit selbst.


Elementarlehre 
des »bürgerlichen Charakters«


Kluge: So wie das Wasser, das Brackwasser in einem Mangrovenwald anders ist als das Wasser in unsern Körpern, anders ist als das Wasser in den Ozeanen oder Trinkwasser, so gibt es im Kapitalismus und im bürgerlichen Charakter …


Vogl: … unterschiedliche Wasserqualitäten …


Kluge: … unterschiedliche Qualitäten, ja, und wenn wir jetzt die Chancen, die auf all diesen verschiedenen Stationen liegen geblieben sind, aufsammeln, so wie Grimms Märchen, würden wir etwas Interessantes tun: Wir würden einen bürgerlichen Charakter zusammensetzen können, erlernen können und irgendwann einmal auf der Höhe dieser Errungenschaften sein, die vierhundert Jahre lang das Fürchterlichste, also die Fähigkeit bis hin zu Auschwitz, und das Wohltuendste, die Fähigkeiten des Gartenbaus, in menschlichen Beziehungen miteinander vereinigen.


Vogl: Das ist völlig richtig, und was wahrscheinlich gefordert ist und was bisher wohl nur provisorisch versucht wurde, das ist der zoologische Blick, der eine naturhistorische Klassifikation dieses bürgerlichen Subjekts in seinen verschiedenen Unterarten vornimmt und damit vielleicht auch eine Richtungsangabe für seine weiteren Evolutionen, seine Entwicklungsmöglichkeiten liefert. Das ist die Elementenlehre …


Kluge: … die könnte man aber nicht selber entwickeln, indem man gelungene Beispiele aufsammelt, sondern indem man Spiegelungen, Brechungen aufsammelt, ist das richtig?


Vogl: Indem man Spiegelungen aufsammelt, indem man aber auch seziert und Anatomie betreibt.


  • Kapitalismus
  • Gespräch
  • Politik
  • Oper
  • Amok
  • Kulturkritik

Meine Sprache
Deutsch

Aktuell ausgewählte Inhalte
Deutsch, Englisch, Französisch

Alexander Kluge

Alexander Kluge

ist promovierter Rechtsanwalt, Filmemacher, Fernsehproduzent, Schriftsteller und Drehbuchautor. Neben zahlreichen anderen Auszeichnungen erhielt er für sein umfangreiches literarisches Werk 2003 den Georg-Büchner-Peis, für seine Kinofilme und Fernsehproduktionen 2008 den Ehrenpreis der Deutschen Filmakademie; sein Lebenswerk wurde mit dem Großen Bundesverdienstkreuz geehrt. Seit 1988 produziert Alexander Kluge unabhängige Kulturmagazine im deutschen Privatfernsehen: »›Fernsehen der Autoren‹ in homöopathischer Dosis«.

Weitere Texte von Alexander Kluge bei DIAPHANES
Joseph Vogl

Joseph Vogl

ist Professor für Neuere deutsche Literatur, Literatur- und Kulturwissenschaft/Medien an der Humboldt-Universität zu Berlin und Permanent Visiting Professor an der Princeton University, USA. Mit »Das Gespenst des Kapitals« (2011) hat Joseph Vogl  »einen heimlichen Bestseller geschrieben, der weit über die Feuilletons Aufsehen erregte« (DER SPIEGEL).

Weitere Texte von Joseph Vogl bei DIAPHANES
Alexander Kluge, Joseph Vogl: Soll und Haben

Alexander Kluge, Joseph Vogl

Soll und Haben
Fernsehgespräche

Broschur, 336 Seiten

PDF, 336 Seiten

Das deutsche Privatfernsehen ist nicht eben bekannt für seine niveauvollen Diskussionsformate; umso überraschter hält der mitternächtliche Zapper inne, wenn auf einem der Kanäle Sätze fallen wie: »Ökonomischer Aberglaube ist so etwas wie das Spektrum bürgerlicher Tugenden« oder »Die Lösungen liegen immer auf der Straße, im Verkehr«. Er ist, unzweifelhaft, in eines der im wahrsten Sinne des Wortes merkwürdigen Kulturmagazine von Alexander Kluge geraten.

Alexander Kluge, der wohl eigensinnigste Autor, Filmemacher, Philosoph, Kulturtheoretiker, Regisseur, Medienpolitiker und Chronist Deutschlands, produziert seit 1988 unabhängige Kulturmagazine im deutschen Privatfernsehen. Seit 1994 ist der Kulturwissenschaftler Joseph Vogl regelmäßiger Gast in seinen Sendungen. Alexander Kluges charakteristische Interviewtechnik hat in ihm ihr kongeniales Gegenüber gefunden. Ergebnis der beiderseitigen Passion sind über vierzig Fernsehinterviews, die eine eigene Kunst der zielführenden Abschweifung kultivieren und das Genre völlig neu erfinden.

Soll und Haben versammelt erstmals eine Auswahl dieser Gespräche in Buchform. Das thematische Spektrum reicht quer durch die Zeiten und Kulturen. Ob Vogl jedoch über Amoklauf spricht, über Kapitalismus in Ostindien, globalisierte Gefühle, politische Tiere oder den geheimen Zusammenhang von Terror und Macht, Dichtung und Bürokratie, Kluges insistierende Präsenz bringt den Befragten nicht nur immer dazu, mehr und anderes zu sagen als das vorher Gewusste, das öffentlich bereits Niedergelegte. Und immer ergeben sich auch schlaglichtartige Erhellungen der aktuellen Verhältnisse: »Aus der Ferne kommt unser Nächstes zurück«.