Robert Walsers Roman Jakob von Gunten beschreibt das Schicksal einer bekannt und zugleich überaus rätselhaft wirkenden Institution. Obwohl sie als Erziehungseinrichtung gehandelt wird, scheint Bildung in einem gymnasialen, polytechnischen oder gar klassisch universitären Sinn nicht ihr Ziel zu sein. Gleich zu Beginn heißt es mit aufsässiger Resignation von einem Schüler: »Man lernt hier sehr wenig, es fehlt an Lehrkräften, und wir Knaben vom Institut Benjamenta werden es zu nichts bringen, das heißt, wir werden alle etwas sehr Kleines und Untergeordnetes im späteren Leben sein.«1 Das Potential und die Freiheitsgrade der hier nur »Zöglinge« genannten Unterrichteten wird also durch das Institut nicht erhöht, sondern planvoll vermindert. Die in der Lehre eingesetzten Übungen und Verhaltensregeln bestehen zu diesem Zweck nur in end- und grundlosen Wiederholungen, in denen die Tätigkeit verschiedenster Berufe, der Alltag der das Institut umgebenden Stadt und der Habitus sozial höherstehender Schichten nachgeahmt werden. In dieser Zwangsmimesis am Bestehenden scheinen die Schüler alle menschlichen Eigenarten abzulegen und als »Affen« oder »Vögel« in ihrer disziplinarischen Zurichtung vollkommen aufzugehen. Jenseits davon bleibt ihnen nur das Warten: ein halb erschlafftes, halb übernervöses Dahindämmern in fieberhafter Untätigkeit, in der sie allein hoffen dürfen, bei der nach unbekannten Maßgaben operierenden Arbeitsvermittlung des Instituts berücksichtigt zu werden.
Vielleicht ist eine Analogie zwischen dieser verrätselten Schule eines protokafkaesken Romans von 1909 und der Universität nach Bologna (↑ Bologna-Prozess) nur um den Preis ihrer vordergründigen Kurzschlüssigkeit herstellbar. Leicht zu sehen ist aber, dass Walsers Erzählung vom Schicksal der Bildung in der Moderne handelt (↑ Bildung, kritische). Und nicht ganz von ungefähr taucht in Jakob von Gunten die Vermittlung zu einer Anstellung als Teil der institutionellen Verfahren und normativen Vorgaben auf, fällt doch die Abfassung des Romans zeitlich mit der Genese des Arbeitsmarktes und der damit einhergehenden Begründung neuartiger Regierungstechniken zusammen.2 Der Roman erzählt also von der Entstehung und der Wirksamkeit eines normativen Gebildes, unter dem sich auch universitäre Verfahren der letzten zehn Jahre tiefgreifend verändert haben. Das Institut Benjamenta als Universität nach Bologna hat dann nicht den Charakter eines schöngeistigen Kommentars, einer Vorausahnung oder einer anachronistischen Montage, sondern den einer analytischen Verfremdung, in der sich die Gegenwart mit einer unerwarteten Geschichte konfrontiert sieht.3
Historisch gesehen wird die Relevanz universitärer Lehre für die Berufschancen von Akademikern natürlich nicht erst diskutiert, seit die Ergebnisse einer klandestin abgehaltenen Konferenz der europäischen Erziehungsminister in einer Erklärung öffentlich gemacht wurden.4 Auch kann die jetzige Situation deutscher Studiengänge nicht allein auf die hier geforderte Europäisierung der Universitäten durch vereinheitlichte Studienabschlüsse zurückgeführt werden. Vor allem in Deutschland aber wurde der Bologna-Prozess mit administrativen Maßnahmen verknüpft, die seither Wissen und Bildung in eine vollkommen neuartige Beziehung zu ökonomischen Diskursen und Regierungstechniken gestellt haben. Und für einen Teil dieser Maßnahmen wurde der Arbeitsmarkt in bisher ungekannter Weise zugleich als Anreizträger und Drohkulisse allen Studierens etabliert: durch reduzierte Regelstudienzeiten mit pönalisierter Überschreitung; durch gesteigerte ↑ employability in der Vermittlung von Schlüsselkompetenzen (↑ Kompetenz); durch die zur Pflicht gewordene Praxisorientierung aller Studiengänge. Umwandlungen, zu deren Kennzeichnung das Adjektiv »angewandt« vor Studiengangsbezeichnungen beliebt geworden ist. Neubenennungen, deren Perfidie wohl nicht von ungefähr impliziert, dass dem Wissen der Studiengänge ohne jenen Adjektivzusatz die Anwendbarkeit fehle. Zur Aberkennung eines Gegenstandes und in einem nächsten Schritt ganzer Wissensbereiche ist der Weg dann nicht mehr weit. Noch direkter wirkt sich aber neben der Ausrichtung auf erhöhte Arbeitgeberakzeptanz eine engere Verzahnung von Arbeitsmarkt und Hochschule im Alltag der Studierenden (↑ Lebensführung, studentische) aus: Durch die Einführung von Studiengebühren wird ein großer Teil der Studentenschaft in den Minijob- und Dienstleistungssektor gedrängt.
Es ist ein unbestreitbar sinnvolles Vorhaben, Akademikern bestmögliche Berufsausbildung und dadurch Chancen in einer sich formierenden Wissensgesellschaft einzuräumen. Dies geschieht an deutschen Universitäten aber bisher allein durch die Neuorganisation der Lehre im Anschluss an jenen Markt, auf den sie eigentlich erst vorbereiten soll. Dieser Anschluss, der den Markt zum alleinigen »Ort der Veridiktion«5 über die Bildungsmaßnahmen avancieren lässt, wird in mindestens zweifacher Weise unternommen: zum einen durch die Neuinterpretation der Universitäten, Institute und Lehrstühle als Konkurrenzunternehmen, deren Mittel abhängig von ↑ Evaluationen und dabei nicht unwesentlich von Absolventenzahlen bewilligt werden. Dieser Aspekt einer rein quantitativen Interpretation der Lehre (↑ Austauschbarkeit), bei der Dozenten nurmehr Türhüter für Absolventen sind, schafft vor allem Anreiz zu hohen Durchlaufquoten – ob dadurch eine qualitative Vorbereitung auf den Arbeitsmarkt erzeugt wird, bleibt von dieser Logik unberücksichtigt. Zugrunde liegt einer solchen Neubewertung der Lehre ein merklicher Übergang von der ordoliberalen Wissenschaftspolitik der Nachkriegszeit zu einer amerikanischen oder neoeuropäischen Interpretation der Universität. Letzterer zufolge ist der Arbeitsmarkt kein von der Universität getrenntes gesellschaftliches Feld, sondern Arbeit und Bildung erscheinen als Zielpunkte einer einzigen vielgestaltigen Forderung des Marktes, die sich auch dort stellen lässt, wo der Geltungsanspruch des Marktes bis dato unberücksichtigt bleiben konnte.
In zweiter Hinsicht etabliert sich der Markt als ultima ratio universitärer Maßnahmen durch intensivierte Quantifizierung von Arbeitsaufwand und Seminarleistungen (↑ Modul). Auf diese Weise wird das Studium in Investitionen aufgeteilt und die Studenten zu Unternehmern ihrer selbst gemacht, die zu kalkulierbaren Kosten in zeitlicher und monetärer Hinsicht zu ihren natürlichen Anlagen erworbene Eigenschaften hinzutreten lassen können und auf diese Weise eine Kompetenzmaschine konstruieren, die später Einkommen sichern wird.6 Dies ist der biopolitische Einsatz der jüngsten Universitätsreformen: Bildung wird Humankapital, implementiert durch ein »Regime der Bewertung, der Kosten, der Eigentumsrechte und Investitionen im Bereich des Lebens.«7
Diese beiden Fluchtlinien universitärer Neuausrichtung am Arbeitsmarkt stellen nichts weniger als Vollständigkeit der Beschreibung her. Sie erlauben aber festzustellen, dass Ökonomie und Wissen im universitären Dispositiv eine neue Dimension ihrer gegenseitigen Aufladung und Umschlingung erreicht haben. Während noch zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts Institutionen diesen Übergang durch Trennlinien regelten, einen geregelten Übergang von Familie zu Schule und Universität und von dort zu Fabrik oder Firma organisierten, wird Bildung nun zu einem kontinuierlichen Strom von quasi-quantifizierbaren Investments (↑ Leistungspunkte/ECTS). Unternehmen, Universitäten, Arbeitsvermittlungen sind metamorphe Institutionen geworden, Substrate ein und desselben Marktes, der als unilaterale Verzerrung aller Verfahren auftritt. Wollte man dem Arbeitsmarkt im ↑ Bestiarium der neuen Universität ein Emblem zuweisen, so müsste dies die von Gilles Deleuze für Dispositive der Kontrollgesellschaften reservierte Schlange sein. Ein mit wellenhaften Bewegungen in alle Institutionen eindringendes Tier, das alles umfassen kann, ohne jemals mit etwas koextensiv zu sein und sich so selbst jeglicher Kontrolle zu entziehen weiß.8
Wenn das Institut Benjamenta eine solche Bildungsinstitution als Mittel zur Zulieferung für den Arbeitsmarkt bereits nahelegt, dann insistiert Walsers Roman auf einem ironischen Umstand. Je weiter sich das Institut von einem längst vergessenen Gründungstext und seinem disziplinarischen Bildungsbestreben entfernt, je stärker seine Verfahren an die Erfordernisse des Marktes ausgerichtet werden, desto geringer fällt paradoxerweise der Freiheitsgrad derer aus, an die diese Verfahren sich richten. An einem bestimmten Punkt der entropischen Annäherung von Dispositiven entsteht nach Walser also nicht jene Liberalität, die eine administrative und sprachpolitische Advokatur dem Markt gerne unterstellt. Es entsteht dadurch vielmehr ein nicht wahrnehmbares, aber dafür umso unerbittlicheres und nicht hintergehbares Gebot, dem sich zu verweigern nicht oder nur um den Preis eigener Handlungs- und Lebensfähigkeit möglich ist. In dieser Situation wählen die äffisch organisierten Zöglinge am Institut einen überraschenden Weg, der dessen veränderte Verfahren nicht unbeeinträchtigt lässt und am Ende gar zum Erliegen bringt. Sie insistieren scheinbar naiv auf dem unmöglich, ja lächerlich gewordenen schulischen Charakter ihrer Anstalt. Dies nicht aus bildungsbürgerlicher Beflissenheit oder als Geste der Reminiszenz an die besseren Tage einer abgewirtschafteten Institution, sondern um einen normativen und darin nicht notwendigen Charakter jener Ordnung zunächst einmal kenntlich werden zu lassen, der sie unterstehen.
Simon Roloff
1 Robert Walser: Jakob von Gunten, Sämtliche Werke in Einzelausgaben, hg. v. Jochen Greven, Zürich 1985, S. 7.
2 Ein konsolidierter Arbeitsmarkt existiert in Deutschland seit der Einrichtung eines flächendeckenden Vermittlungs- und Versicherungssystems in den 20er Jahren. Vgl. Hans-Walter Schmuhl: Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktverwaltung in Deutschland 1870–2002, Nürnberg 2003. Zur Herkunft der Romanpoetik von Walsers Berliner Romanen aus den Verfahren der in ihnen prominent auftauchenden Arbeitsloseninstitutionen vgl. Simon Roloff: »Diener des Schreibens. Die Zettel der Stellenlosen in Robert Walsers Geschwister Tanner«, in: Friedrich Balke, Maria Muhle, Antonia von Schöning (Hgg.): Die Wiederkehr der Dinge, Berlin 2011, S. 285–298.
3 Im Sinne einer »Erfahrung der Gegenwart« bei Michel Foucault, die über eine Historisierung zwischen Fiktion und geschichtlicher Tatsache vermittelbar wird. Vgl. Michel Foucault: »Entretien avec Duccio Trombadori«, in: Dits et écrits, 1980–1988, hg. v. Daniel Defert, François Ewald, Paris 1994, S. 51–119, hier S. 55 und 57.
4 Einen Überblick über die deutsche Diskussion seit den 60er Jahren gibt Ulrich Teichler (Hg.): Hochschulstrukturen im Umbruch. Eine Bilanz nach vier Jahrzehnten, New York, Frankfurt/Main 2005, S. 47–50.
5 Michel Foucault: Die Geburt der Biopolitik, übers. v. Jürgen Schröder, hg. v. Michel Sennelart, Paris 2004, S. 56.
6 Auf diese Weise beschreibt Foucault das ökonomische Analyseraster für Bildung im neoliberalen Diskurs, vgl. ebd., S. 319.
7 Ute Tellmann: »Ökonomie und Biopolitik. Das primitive Leben und die ökonomische Zivilisation«, in: Maria Muhle, Kathrin Thiele (Hgg.): Biopolitische Konstellationen, Berlin 2011, S. 61–82, hier S. 81.
8 Gilles Deleuze: »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften«, übers. v. Gustav Roßler, in: ders.: Unterhandlungen 1972–1990, S. 254–262, hier S. 258.
ist Autor und Wissenschaftler. Er forscht zu Mediengeschichte, zu Theorie und Geschichte der Kulturtechniken und zum Wissen ästhetischer Formen. Seit 2014 ist er Juniorprofessor für Literaturwissenschaft und literarisches Schreiben an der Universität Hildesheim.
»ECTS-Punkte«, »employability«, »Vorlesung« – diese und viele weitere Begriffe sind durch die Bologna-Reformen in Umlauf geraten oder neu bestimmt worden und haben dabei für Unruhe gesorgt. Die Universität ist dadurch nicht abgeschafft, aber dem Sprechen in ihr werden immer engere Grenzen gesetzt. Anfangs fremd und beunruhigend, fügen sich die Begrifflichkeiten inzwischen nicht nur in den alltäglichen Verwaltungsjargon, sondern auch in den universitären Diskurs überhaupt unproblematisch ein.
Das Bologna-Bestiarium versteht sich als ein sprechpolitischer Einschnitt, durch den diese Begriffe in die Krise gebracht und damit in ihrer Radikalität sichtbar gemacht werden sollen. In der Auseinandersetzung mit den scheinbar gezähmten Wortbestien setzen Student_innen, Dozent_innen, Professor_innen und Künstler_innen deren Wildheit wieder frei. Die Definitionsmacht wird an die Sprecher_innen in der Universität zurückgegeben und Wissenschaft als widerständig begriffen.