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Joseph Vogl: Lernen, lebenslanges
Lernen, lebenslanges
(S. 227 – 230)

Nie mit nichts fertigwerden: der moderne Sisyphus

Joseph Vogl

Lernen, lebenslanges

PDF, 4 Seiten

Obwohl Pubertäten heute früher beginnen, hören sie doch immer später auf, und so sehr demografische Vergreisung droht, so sehr wächst das Juvenile unmittelbar ins Senile hinein. Dieses biosoziale Bild oder Selbstbildnis unserer Gesellschaften gibt den Hintergrund für eine durchschnittliche Lebensform, die sich im Übergang dauerhaft einrichtet und eines ihrer Passwörter mit dem Begriff des »lebenslangen Lernens« erhalten hat. Auch wenn es bislang nicht wirklich gelungen ist, das Format dieses Lernens zu definieren, kann man doch einige Umstände erkennen, unter denen Lernprozesse mit endlosem Ausgang ihre gegenwärtige Prominenz erhielten und seit mehr als zwanzig Jahren die pädagogischen Sorgen von Unternehmensberatern und Volkserziehern, von OECD, EU-Kommissionen und Bundesministerien, von PISA-Studien und ↑ Bologna-Prozessen erregten.

So hat man schon seit den 1970er Jahren mit dem Begriff des »Humankapitals« (↑ Korporatisierung) auf die Entstehung von Gesellschaften reagiert, deren Dynamik sich durch die stete Ausweitung von Märkten und Konkurrenzlärm bestimmt (↑ Leistungspunkte/ECTS). Neben der bloßen Darbietung von Arbeitskraft rückten neue Ressourcen in den Blick, die dazu einladen, den »ganzen« Menschen zu bewirtschaften. Genetische Ausstattung, Erziehung, Ausbildung, Wissen, Gesundheit, Familienplanung und Freundschaftsgeflechte wurden gleichermaßen dem »ökonomischen Ansatz« unterworfen, und als Wissenschaft von menschlichen Verhaltensweisen und Entscheidungen überhaupt bezieht sich eine jüngere ökonomische Analyse nun auf die Totalität eines sozialen Feldes, dessen Komponenten und Mikrostrukturen sich nach den Kriterien von Knappheit, Wahlzwang und Opportunitätskosten erschließen. Hier lassen sich »Schattenpreise« für Bildungssysteme, Gesundheitswesen, Kindererziehung, Wissenschaften und Sozialverhalten ermitteln, die analog zu den Anreizen von Marktpreisen funktionieren. Wenn Humankapital dabei die Gesamtheit von Kenntnissen und Vermögen meint, die eine Doppelfunktion von dauerhaften Produktions- und Konsumgütern übernehmen, so wird die Nutzung und Pflege von Fertigkeiten verlangt, die sich nicht im Professionellen erschöpfen und als unbestimmtes Mehr an – sozialen, technischen, praktischen, persönlichen – Reserven Marktvorteile zu schaffen vermögen. Damit war einerseits ein Umbau von Arbeitsverhältnissen und Karrieren verbunden, der nicht nur die Lebenslagen des urbanen, kreativen Prekariats betrifft. Wer die Ratgeberliteratur für Lohnabhängige aufschlägt, wird über die neuen Bedingungen belehrt: Das Ende beruflicher Routinen verbindet sich hier mit einem Ende erwartbarer Lebenswege, kurzfristige Engagements werden mit Mobilitätsbereitschaft kombiniert, und die tätigen Individuen finden sich diesseits älterer symbolischer Grenzen und als Arbeitsnomaden in einer Grauzone zwischen Häuslichkeit und Büro, Beruf und Privatheit, persönlichen und professionellen Verhältnissen eingestellt. Selbst- und Weltverhältnisse sind zu Investitionsfragen, Angestellte zu »Intrapreneuren« und Lohnempfänger zu »Arbeitskraftunternehmern« geworden. Andererseits hat man sich damit auf ein Leitbild von postindustriellen »Informations-« oder »Wissensgesellschaften« verpflichtet, in denen das Diktat von technologischer und...

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Joseph Vogl

Joseph Vogl

ist Professor für Neuere deutsche Literatur, Literatur- und Kulturwissenschaft/Medien an der Humboldt-Universität zu Berlin und Permanent Visiting Professor an der Princeton University, USA. Mit »Das Gespenst des Kapitals« (2011) hat Joseph Vogl  »einen heimlichen Bestseller geschrieben, der weit über die Feuilletons Aufsehen erregte« (DER SPIEGEL).

Weitere Texte von Joseph Vogl bei DIAPHANES
Unbedingte Universitäten (Hg.): Bologna-Bestiarium

Unbedingte Universitäten (Hg.)

Bologna-Bestiarium

Broschur, 344 Seiten

PDF, 344 Seiten

»ECTS-Punkte«, »employability«, »Vorlesung« – diese und viele weitere Begriffe sind durch die Bologna-Reformen in Umlauf geraten oder neu bestimmt worden und haben dabei für Unruhe gesorgt. Die Universität ist dadurch nicht abgeschafft, aber dem Sprechen in ihr werden immer engere Grenzen gesetzt. Anfangs fremd und beunruhigend, fügen sich die Begrifflichkeiten inzwischen nicht nur in den alltäglichen Verwaltungsjargon, sondern auch in den universitären Diskurs überhaupt unproblematisch ein.

Das Bologna-Bestiarium versteht sich als ein sprechpolitischer Einschnitt, durch den diese Begriffe in die Krise gebracht und damit in ihrer Radikalität sichtbar gemacht werden sollen. In der Auseinandersetzung mit den scheinbar gezähmten Wortbestien setzen Student_innen, Dozent_innen, Professor_innen und Künstler_innen deren Wildheit wieder frei. Die Definitionsmacht wird an die Sprecher_innen in der Universität zurückgegeben und Wissenschaft als widerständig begriffen.

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