Was für einen Roman erzählt die Börse?
Aus: Soll und Haben. Fernsehgespräche, S. 247 – 258
ROMANE verbinden menschliche Erfahrungen
zu einem POETISCHEN NETZ /
Das genaue Gegenteil davon macht ein BÖRSEN-CRASH /
Zum Verhältnis von BÖRSE und ROMAN –
Kluge: Wenn Sie einmal ins Auge fassen: Bankrotte des 20. Jahrhunderts. Wo würden Sie die festmachen?
Vogl: Es gibt natürlich die herausragenden Daten 1923 und 1929. Neunzehnhundertdreiundzwanzig passierte das, was man galoppierende oder Hyperinflation nennt, das Zusteuern auf das schwarze Loch des Staatsbankrotts. Und der Schwarze Freitag 1929 war ein Datum, an dem ausgehend von der Wall Street in New York, mit dem Umfallen …
Kluge: … mit einem Tag Verschiebung zum Black Thursday in den USA kommt die Katastrophe in Europa, mit einem Tag Verspätung, am Schwarzen Freitag an, benannt nach einem Unglückstag, den man bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen kann.
Vogl: Das kommt hier an wie eine Sturmwelle, in Deutschland, in der Weimarer Republik. Von beiden Daten hätte man in früheren Zeiten wohl gesagt, dass sie rein spirituelle Ereignisse sind, Ereignisse, die wenig mit materiellen Dingen, mit Materiezuständen zu tun haben, sondern …
Kluge: Von Saulus zu Paulus wird also ein Bekehrungserlebnis wirksam.
Vogl: Man könnte es mit einem Ausdruck von Gilles Deleuze als eine Art körperlose Transformation begreifen: Es passiert etwas. An den Körpern ist das Ereignis nicht ablesbar, und dennoch hängen die Körper wie Marionetten an diesem Ereignis und fangen an, nach diesem Ereignis zu tanzen, die Gebäude bleiben stehen, die Börse bleibt stehen, die Architektur …
Kluge: Sie bleiben stehen, wie bei Dornröschen. Vom Jahr 1929 bis 1932 bleibt etwas stehen.
Die vergessene Firma Inmitten des Verfalls der Kurse am Schwarzen Donnerstag 1929 hielten sich, ganz unbeachtet, die Werte einer Aktiengesellschaft namens Phönix & Agros AG. Die Gesellschaft schien Bodenflächen auf Zypern zu besitzen und betrieb alchemistische Werkstätten in Aleppo, wo sie in Labors Spitzenweine chemisch nachahmte; auch hatte sie Entwürfe für populäre Getränke hergestellt, die bis Mitte des Jahrhunderts auf die Märkte gebracht werden sollten. Ob irgend jemand an den im Prospekt der Aktiengesellschaft ausgewiesenen Aufgaben im Oktober 1929 noch arbeitete, weiß man nicht. Die Geschäfte der Firma wurden von einer Rechtsanwaltskanzlei in Athen treuhänderisch abgewickelt. Die Aktienmehrheit befand sich im Besitz enteigneter südrussischer Adelsfamilien und einer in der Sowjetunion zwangsaufgelösten Versicherungsgesellschaft; die Adligen galten als verschollen. Diese Aktionäre verhielten sich ruhig. Niemand fragte nach den Aktien, niemand verkaufte auch nur ein Stück. So blieben die Kurse dieses Titels bis 1932 konstant auf der Höhe des 4. September 1929, ein einsamer Höchststand. Als ein Analyst dann einen Posten davon...
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ist promovierter Rechtsanwalt, Filmemacher, Fernsehproduzent, Schriftsteller und Drehbuchautor. Neben zahlreichen anderen Auszeichnungen erhielt er für sein umfangreiches literarisches Werk 2003 den Georg-Büchner-Peis, für seine Kinofilme und Fernsehproduktionen 2008 den Ehrenpreis der Deutschen Filmakademie; sein Lebenswerk wurde mit dem Großen Bundesverdienstkreuz geehrt. Seit 1988 produziert Alexander Kluge unabhängige Kulturmagazine im deutschen Privatfernsehen: »›Fernsehen der Autoren‹ in homöopathischer Dosis«.
ist Professor für Neuere deutsche Literatur, Literatur- und Kulturwissenschaft/Medien an der Humboldt-Universität zu Berlin und Permanent Visiting Professor an der Princeton University, USA. Mit »Das Gespenst des Kapitals« (2011) hat Joseph Vogl »einen heimlichen Bestseller geschrieben, der weit über die Feuilletons Aufsehen erregte« (DER SPIEGEL).